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Album-Review: Porcupine Tree – CLOSURE / CONTINUATION

Die polarisierende, britische Progressive-Rock-Band Porcupine Tree unter der Regie von Steven Wilson feiert ihr Comeback nach 12 Jahren Hiatus mit ihrem kryptisch als "CLOSURE / CONTINUATION" betitelten elften Studioalbum. Mittlerweile ist die Fanbase der Band größer als je zuvor. Der Beweis: "CLOSURE / CONTINUATION" führt aktuell die Album-Charts Großbritanniens an und hat somit das neue Harry Styles-Album vom Thron gestoßen.

Die Reunion war eine totale Überraschung, hatte Wilson doch vor kurzem noch sein Desinteresse an gitarrenbasierter Rockmusik beteuert und Porcupine Tree überhaupt erst wegen der stilistischen Stagnation aufgelöst. Da kommt der Vorwurf, dies wäre ein totaler cash grab nicht von ungefähr. Also, was ist da los? Und kann die Musik über diese und weitere fade Beigeschmäcker der herbeigesehnten Wiedervereinigung hinauswachsen?

"Porcupine Three" – eine reunion mit fadem Beigeschmack

2010 haben sie sich aufgelöst. 2022 sind sie zurück. Porcupine Tree – Legenden des modernen Progressive-Rock. Der Titel des elften Studioalbums ist kryptisch: CLOSURE / CONTINUATION. Die Bandmitglieder sind sich selbst nicht sicher, was das zu bedeuten hat. Ist es nun der Beginn einer neuen Ära oder ein Abschied?

So, oder so ähnlich wird sie gern stilisiert, die überraschende Rückkehr von Porcupine Tree. Tatsächlich jammen Bandgründer, Frontmann, Hauptkomponist, Sänger, Gitarrist und nun auch Bassist Steven Wilson und Schlagzeuger Gavin Harrison schon seit längerem. Und Richard Barbieri hat ebenfalls ab und zu ein paar Sound-Collagen verschickt. Einiges vom neuen Material wurde recycelt von den Sessions zum letzten Studioalbum The Incident. Alles ist mehrere Jahre alt. Die exemplarische Nennung von Diktatoren in Rats Return wurde seit 2015 nicht geupdatet. Wilson ist sich immer noch nicht für die üblichen generischen Balladen zu schade. Die Jahre als Solo-Künstler scheinen den gemeinhin als recht egomanisch wahrgenommenen Messias des Prog jedoch milder gestimmt zu haben. Eins hat sich nämlich verändert: Gavin Harrison und Richard Barbieri dürfen deutlich mehr auf CLOSURE / CONTINUATION. Wozu auch sonst die schnöde Band aus den 2000ern wiederbeleben? Bassist Colin Edwin darf dafür gar nichts mehr. Er wurde einfach nicht gefragt ob er mitmachen will. Wird sicherlich okay für ihn gewesen sein, urteilt Wilson im Interview mit eclipsed. Edwin wäre ja eh nie so essenziell für den Sound von Porcupine Tree gewesen. 
Bei der Rolling Stone Deutschland echauffiert Wilson sich dann über die Frage, was denn sein Lieblingsalbum aller Zeiten sei. Dann beantwortet Barbieri die Frage ganz cool selbst und lässt seinen Chef für ein paar Minuten wie ein beleidigtes Kind aussehen. Hauptsache ist, dass man nicht die möglicherweise letzte Tour der Band durch Arenen in Europa verpasst.

Habt ihr jetzt schon Lust das neue Porcupine T(h)ree-Album zu hören?

Ganz so schlimm ist es vielleicht doch nicht. Steven Wilson ist sowieso bekannt für den ein oder anderen Ausrutscher. Der Mann ist nur ein Mensch – und das meine ich ernst. Es gibt Künstler, die deutlich unmenschlichere Sachen gemacht haben. Jeder ist manchmal ein kleines Arschloch und angesichts dessen, wie lange die äußert sympathischen und erwachsenen Harrison und Barbieri schon und immer wieder mit Wilson zusammenarbeiten, kann er kein so unangenehmer Zeitgenosse sein.

Was kann denn die Musik?

Wer mit Porcupine Tree noch nie etwas anfangen konnte oder kein Fan der Prog-Metal-Entwicklung der Band in den 2000er war, der wird auch mit CLOSURE / CONTINUATION nicht warm werden. Unter'm Strich sind es die gleichen Formeln, die das Trio erneut recht erfolgreich zur Anwendung bringt. Folglich wird die Musik wieder von den gleichen Schwächen, Clichés und Problemen geplagt. Besonders bei den ruhigeren, melancholischen Songs greift Steven Wilson wie gewohnt auf 0815-Schreibe zurück, was den Texten jegliche Persönlichkeit nimmt. Of The New Day mit dem vordergründigem Gesang ist in diesem Kontext mit Abstand der schwächste Titel des Albums.
Damit will ich Porcupine Tree jedoch nicht jegliche Entwicklung absprechen. CLOSURE / CONTINUATION ist wirklich – wie in Interviews und Statements oft betont wurde – geprägt vom Kontrast zwischen dem typischen Bandsound und einigen Neuerungen. Wir hören schnöde auf den Punkt gebracht das Porcupine Tree der 2020er. Hier und dort flimmern Einflüsse der Elektronik und des Funks des letzten, kriminell unterschätzten Steven Wilson-Albums THE FUTURE BITES auf (Walk the Plank; HarridanHerd Culling), Wilsons aggressiveres, Gitarren-artiges Bassspiel bringt eine neue Facette und das Instrument tritt darum öfter in den Vordergrund (Harridan; Chimera's Wreck) oder war überhaupt erst Ausgangspunkt für die Evolution eines Songs. Die Production ist klarer denn je, sehr dynamisch und punchy, aber gleichzeitig etwas kalt und "rational". Das ist Steven Wilsons Stil in perfektionierter Reinform – im Guten wie im Schlechten.

Als ganzes Album fließt CLOSURE / CONTINUATION perfekt. Über die ersten drei Tracks, unter ihnen das dreckig riffige Rats Return, baut es sich hin zu den Highlights Dignity und Herd Culling auf. Chimera's Wreck rundet die Erfahrung dann auf epische und (melo-)dramatische Weise ab. 
Wer noch mehr aus CLOSURE / CONTINUATION herauskitzeln will, der kann sich obendrein die Bonus-Tracks zu Gemüte führen, die den regulären Album-Tracks in Nichts nachstehen. Auf dem 3LP Box Set sind zwar leider nur zwei von ihnen enthalten, dafür werden die beiden (Population Three und Never Have) clever in die Tracklist integriert. Es verwundert, dass Wilson als großer Streaming- und MP3-Feind und Plattensammler alle drei Boni nur auf Streamingplattformen und Deluxe-CD zur Verfügung stellt. Dann investiert man noch das extra Geld in die Deluxe 3LP und selbst so bekommt man nicht die komplette Erfahrung. Enttäuschend!

Von der Vinyl-Enttäuschung, die eh nur einem Nischeninteresse nachgeht, einmal ganz abgesehen, hat CLOSURE / CONTINUATION meine Erwartungen insgesamt sogar leicht übertroffen. Die Singles Harridan und Rats Return waren zwar grundsolide, doch Of The New Day empfand ich als unspektakulär und generisch und der Herd CullingSingle Edit war grauenvoll. Meine Hoffnungen waren dementsprechend nicht allzu gigantisch und die oben besprochenen Kontroversen haben das keinesfalls verbessert.
Nachdem ich das Album jetzt ein paar Mal gehört habe, haben mich Porcupine Tree trotzdem wieder abgeholt. So kreativ und im wahrsten Sinne des Wortes progressiv wie auf diesem Album waren sie in der Vergangenheit selten. Natürlich zählen Porcupine Tree weiterhin zu den eher "rückwärtsgewandten" Vertretern des Progressive-Genres, aber die in- und extensiven Schichten an Instrumenten (Gitarren, melodische Basslinien und Pianos) bzw. Sounds(-capes) (Barbieris Synthesizer) und das außergewöhnliche Schlagzeugspiel von Gavin Harrison, den Wilson erstmals komplett von der Leine lässt, machen CLOSURE / CONTINUATION dennoch interessant. Steven Wilson selbst hat auf diesem Album außerdem keine einzige peinliche Textzeile, was beim Blick auf seinen Katalog nicht selbstverständlich ist – ich erinnere an die Totalausfälle ausgerechnet auf dem besten Porcupine Tree (und generell Steven Wilson-)Album Fear of a Blank Planet.

Fazit

Mit CLOSURE / CONTINUATION bleiben Porcupine Tree sich selbst treu, trotz der Untreue gegenüber dem Ex-Bassisten Colin Edwin. Das Album ist über die letzten 10 Jahre unter Hinzuziehen der Überbleibsel der The Incident-Sessions entstanden. Darum bringt es vieles von dem zusammen, was Steven Wilson seit der Auflösung von Porcupine Tree 2010 in seiner Solokarriere gemacht hat. Vermutlich ausgeglichener durch die große Freiheit als Einzelgänger lässt Wilson seine Kollegen Gavin Harrison und Richard Barbieri musikalisch erstmals konstant als gleichwertige – insofern das möglich ist – Bandmitglieder auftreten. Das Resultat ist ein sehr dynamisches und das instrumentell vielschichtigste, technisch versierteste und komplexeste Porcupine Tree-Album.
Bei allem Lob für die Entwicklung ist CLOSURE / CONTINUATION trotzdem an keiner Stelle stilistisch überraschend und auch die Probleme, die einige mit der Band und ihrer Musik haben, werden in der Konsequenz nicht verschwinden. Ich gehöre zwar ebenfalls zu denjenigen, die Porcupine Tree gerne kritisieren, bin jedoch letztendlich (und) in erster Linie Fan. Mein Eindruck ist darum ziemlich positiv. CLOSURE / CONTINUATION ist besser als ich erwartet habe und gefällt mir richtig gut. Klar: es hat nicht den Charme von Lightbulb Sun oder Deadwing oder ist so rund und auf den Punkt wie Fear of a Blank Planet, aber es ist eines der besseren, konstanteren und weniger clichébehafteten Porcupine Tree-Alben – und egal ob dieses Projekt nun closure ist oder zur continuation führt, wir können froh sein, dass diese talentierte Truppe nochmals zusammengefunden hat. 

8 / 10

Anspieltipps: "Harridan"; "Dignity"
weitere Highlights: "Herd Culling"; "Rats Return"; "Walk the Plank"


Tracklist und Ratings
  1. Harridan | 80
  2. Of The New Day | 70
  3. Rats Return | 80
  4. Dignity | 85
  5. Herd Culling | 85
  6. Walk the Plank | 80
  7. Chimera's Wreck | 75

Bonus-Tracks

  1. Population Three | 70
  2. Never Have | 80
  3. Love in the Past Tense | 85