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TOOL: Pioniere des Alternative-Metal - Diskographie-Besprechung | Teil 2: 2001-2019

Der zweite Teil der zweiteiligen Aufschlüsselung der Diskographie der Progressive-Rock-und Alternative-Metal-Pioniere TOOL. Alles vom definierenden Durchbruchalbum bis zum Comeback 2019.

Lateralus [2001]

Januar 2001, nachdem es Gerüchte um eine Auflösung TOOLs gab, da alle Bandmitglieder an anderen Projekten teilnahmen, kündigte die Band ihr drittes Studioalbum an, das den Namen Systema Encéphale tragen sollte. Anbei eine Tracklist von zwölf Songs. Auf diese Ankündigungen fielen nicht nur Fans herein, sondern auch Websites für illegale Musik-Downloads, die das Album daraufhin im Voraus anboten. Was sie nicht wussten: das Ganze war nur ein Trick und Marketing-Stunt seitens TOOLs gewesen. Im Februar wurde dann bekannt, dass das neue Album eigentlich den Namen Lateralus tragen würde. 

Lateralus würde TOOLs definitives Album und der Höhepunkt ihrer musikalischen Karriere werden. Die Ansätze von Ænima wurden dafür auf diesem dritten Werk zu Ende gedacht, was darin resultierte, dass der Sound und die Lyrics der Band weiter philosophischer und spiritueller wurden. Lateralus ist mehr dominiert vom Art-und Progressive-Rock, als vom Metal. Die Songs werden zusammenhängender und länger und sind auch von ruhigeren Parts und vor Allem charakteristischen Build-ups beherrscht. 

Lateralus wurde am 15. Mai 2001 veröffentlicht und debütierte auf Platz 1 der US-amerikanischen Charts und erreichte 2003 Doppel-Platin-Status. Die Auskopplung Schism, die bis heute zu den bekanntesten TOOL-Songs gehört, gewann den Grammy Award für die beste Metal-Performance und der Titeltrack Lateralus steht auf Platz 123 auf der Liste der besten Songs der Rock and Roll Hall Of Fame. Zusammenfassend kann man sagen, dass Lateralus der endgültige Durchbruch der Band ist und sie auch teilweise in den Mainstream brachte. In der Rezeption wurde das Album überwiegend positiv aufgenommen, wobei es, wie ich im ersten Teil erwähnte, immer Kritiker gab und gibt, die mit TOOL an sich nicht viel anfangen können, weshalb sie Lateralus, welches stilistisch weit nicht so breit aufgestellt ist wie sein Vorgänger, aber trotzdem mit dessen Laufzeit gleichzieht (78 zu 77 Minuten), eher als schwächeres Album ansahen. Das Lateralus weniger variabel ist als Ænima, ist meiner Meinung nach aber nur ein Vorteil, da es dadurch insgesamt geschlossener, konsequenter und fokussierter wirkt. Jedenfalls gibt es Reviews, wie die von Kerrang!, die Lateralus als eines der größten und besten Alben aller Zeiten ansehen, und es gibt Reviews, die es in der Luft zerreißen, weil ihre Autoren es nicht verstehen. 

Für Lateralus arbeiteten TOOL erstmalig mit dem Künstler Alex Grey zusammen, der das Artwork designte. So ist besteht das Booklet aus durchscheinenden Plastik-Folien, auf denen der menschliche Körper in mehreren Schichten abgebildet ist. Blättert man um, so scheint man immer tiefer in das Innere vorzudringen. Dies passt auch zu den Thematiken und Metaphern des Albums, die Sänger Maynard James Keenan folgendermaßen zusammenfasst:

They're all about relationships. Learning how to integrate communication back into a relationship. How are we as lovers, as artists, as brothers - how are we going to reconstruct this beautiful temple that we've built and that's tumbled down? It's universal relationship stuff.

Sie sind alle über Beziehung. Darüber zu lernen, wie man Kommunikation in Beziehung integriert. Wie wir als Liebende, Künstler und Brüder sind - wie können wir diesen schönen Tempel rekonstruieren, den wir aufgebaut haben und der in sich zusammengebrochen ist? Es ist alles universelles Zeug über Beziehungen.

Dieser Ausblick auf Lateralus ist in sich eigentlich recht präzise, stellt für jemanden, der das Album nie gehört und die Texte nie gelesen hat, aber nicht wirklich gut heraus, worum es am Ende geht. Auf Lateralus nutzt Keenan die Mathematik und Naturwissenschaften auf metaphorische Weise, stellt diese in Verbindung mit Philosophie und entwickelt daraus zuweilen sehr nachvollziehbare Texte. Die Musik spiegelt das ebenfalls wieder. Es werden nicht nur in jedem Song zu Hauf unorthodoxe Rhythmen, Taktarten und Tempiwechsel genutzt, sondern manchmal auch mathematische Folgen eingesetzt. Der Titeltrack Lateralus ist ein fantastisches Beispiel dafür. So erkannte Keenan in den Rhythmen des Songs die Fibonnaci-Folge wieder und baute diese dann in seine Vers-und Silbenstruktur ein. In der Darstellung sieht diese Folge aus wie eine Spirale. Diese Bild findet sich in der sprachlich-stilistischen, musikalischen und inhaltlichen Ebene von Lateralus wieder. 

Die Philosophie von TOOL ist besonders auf den Songs The Patient (anbei das instrumentale Interlude Eon Blue Apocalypse) und dem Duo Parabol und Parabola nachempfindbar. Ersterer handelt nicht etwa von einem Patienten, wobei dies auch interpretiert werden kann, sondern von jemandem, der geduldig ist: der Geduldige. Das lyrische Ich beschreitet dabei einen Pfad, der viel kostet, Schmerz und eben auch Geduld, doch es erträgt das alles für das, was im philosophsichen Hedonismus (Leitsatz: Glück ist Genuss) als Lust bezeichnet wird, für uns aber auch als Genuss übersetzt werden kann. Es geht um Liebe, nicht unbedingt romantische Liebe, sondern auch um die Liebe zum eigenen Kind beispielsweise. Die Geduld und der Wille Leid zu ertragen, damit man selbst oder eine geliebte Person Glück erfährt oder erfahren kann, das ist es wofür sich das lyrische Ich entschieden hat. If there were no rewards to reap / No loving embrace to see me through / This tedious path I've chosen here / I certainly would've walked away by now / Gonna wait it out / I must keep reminding myself of this.

Parabol und die zugehörige Single-Auskopplung Parabola gehören zu den zugänglichsten Songs von Lateralus. Hier geht es um das Leben in der Gegenwart, die Dankbarkeit dafür, dass man das Leben erleben darf. Recognize this as a holy gift and / Celebrate this chance to be alive and breathing / A chance to be alive and breathing / This body holding me reminds me of my own mortality.

Den Rahmen für all diese Songs bildet der harte Opener The Grudge und das Song-Trio aus Dispostion, Reflection und Triad, die die progressivste und experimentellste Erfahrung auf Lateralus darstellen. Der Track Ticks and Leeches steht als eine der eindrucksvollsten Schlagzeugwerke aller Zeiten da und zementiert die Position Danny Careys als einen der genialsten Drummer, der jemals gehört wurde.

Lateralus ist ein Kunstwerk, auf dem jeder Song seinen Platz findet. Es ist der Höhepunkt in der Lyrik und vielleicht auch Musik TOOLs und anerkannt als ihr essenzielles Album.

Lateralus auf Spotify: https://open.spotify.com/album/5l5m1hnH4punS1GQXgEi3T?si=7A6lkoccQvO2tW2QXf8HSA

Lateralus auf Apple Music: https://music.apple.com/de/album/lateralus/1474185412


10.000 Days [2006]

Mit 10.000 Days veröffentlichten TOOL 2006 ihr viertes Studioalbum, welches vielleicht ihr nachempfindbarstes ist. Dabei lässt sich keine solche Entwicklung verzeichnen, wie die von Ænima zu Lateralus. 10.000 Days setzt den Kurs seines Vorgängers weitestgehend fort, zieht aber Einflüsse aus der afrikanischen Musik hinzu, wird ruhiger und zeigt neue Facetten der Vocals von Maynard James Keenan auf. Der Albumtitel referenziert nicht nur die Zeit, die der Saturn benötigt um einmal die Sonne zu umkreisen, sondern auch die Dauer des Leidens von Keenans Mutter Judith-Marie, die 27 Jahre nachdem sie einen Schlaganfall mit nachhaltigen Schäden erlitt, verstarb. 

10.000 Days wurde Ende April in Europa und Australien-und Anfang Mai in Nordamerika veröffentlicht. Dort gelangte es auf Platz 1 der Billboard 200 Charts. Später erlangte es zudem Platin-Status. Die drei Singles (chronologisch: Vicarious, The Pot, Jambi) zum Album gelangten des Weiteren alle in die Top 10 der Charts und The Pot wurde mit dem Grammy Award für die beste Hard-Rock-Performance ausgezeichnet. Vicarious wurde ebenfalls für den Award in dieser Kategorie nominiert. Das Packaging der CD ist etwas ganz besonderes. So klappt man das Album senkrecht auf und das Brillen-artige Konstrukt, das über dem Cover liegt, kann dann genutzt werden, um das Booklet mit einem kleinen 3D-Effekt zu erleben. Für diese außergewohnliche Pressung gewann 10.000 Days einen weiteren Grammy Award

Mit einem Metacritic-Rating von 68 ist 10.000 Days das am schlechtesten bewertete TOOL-Album, bekam aber generell gemischt positiven Reviews. Die Musikpresse lobte erneut die Musikalität der Band und stellte das Album als eines der besten seines Genres im Jahr 2006 heraus. Trotzdem hieß es auch, 10.000 Days würde es nicht schaffen über seinen Vorgänger hinauszuwachsen und zeige, dass TOOL sich ein bisschen in ihrem bisherigen Stil verfahren hätten. Kritisiert wurde außerdem die Länge des Albums, der das Material nicht gerecht würde. All diese Punkte sind meiner Meinung nach vertretbar, wenn auch nicht unbedingt zutreffend. Auf 10.000 Days wird TOOLs Sound nahbarer, die Texte persönlicher. Auch experimentiert die Band mit neuen Techniken. So findet man auf dem Song Jambi ein Talk-Box-Gitarrensolo. Generell inkorporiert Danny Carey afrikanische Einflüsse in sein Schlagzeugspiel und nutzt elektronische Drums und Soundeffekte zu kreieren.

Der Titeltrack 10.000 Days (Wings for Marie, Pt. 2) erzählt von Maynard James Keenans Mutter Judith-Marie, die, aufgrund der Schäden, die aus ihrem Schlaganfall hervorgingen, von der örtlichen katholischen Kirche ausgeschlossen wurde. Der Text spielt sehr auf das Christentum an und reflektiert darüber, was wir und das wir uns als gute Menschen ansehen. Dem wird Judith-Marie gegenübergestellt und so aufgezeigt, was wahre charakterliche Größe ist (We listen to the tales and romanticize / How we'd follow the path of the hero / Boast about the day when the rivers overrun / How we rise to the height of our halo / Listen to the tales as we all rationalize / Our way into the arms of the savior / Feigning all the trials and the tribulations / None of us have actually been there / Not like you). Keenan beschreibt wie Judith-Marie zu den Pforten des Himmels gelangt und wie sie die einzige ist, die dort verlangen kann eingelassen zu werden (You're the only one who can hold your head up high / Shake your fists at the gates, saying / "I have come home now / Fetch me the spirit, the son, and the father / Tell them their pillar of faith has ascended / It's time now, my time now / Give me my, give me my wings"). Er erkennt in seiner Mutter etwas Göttliches und sieht sie als Beweis für einen eventuell existierenden Gott, da er so nicht an ihn glaubt bzw. glauben würde (Should you see your maker's face tonight / Look him in the eye, look him in the eye, and tell him / "I never lived a lie, never took a life, but surely saved one / Hallelujah, it's time for you to bring me home."). 10.000 Days (Wings For Marie, Pt. 2) ist musikalisch einer der ruhigsten TOOL-Songs. Seine Genialität liegt nicht nur in den Lyrics und der zugehörigen, wunderschönen Vocal-Performance, sondern auch in dem Build-up, das er durchläuft. Dieses Build-up führt allerdings ins Nichts. Es gibt am Ende keine große Klimax, sondern nur den Frieden.

Das Gegenteil zu diesem Stück ist der Track Rosetta Stoned, mit dem zugehörigen Interlude Lost Keys (Blame Hoffmann). Albert Hofmann war Schweizer Chemiker und, wer hätte es gedacht, der Entdecker von LSD. Das Interlude besteht aus einer den Hörer einlullenden, dichten Klangkulisse und einer Unterhaltung, die auf in einer Arztpraxis stattfindet. Die Schwester berichtet dem Chefarzt von einem Mann der wartet, der keine ID vorzuzeigen hat und nichts sagt. Der Arzt bietet dem Mann dann seine Hilfe an und sagt ihm, er solle alles erzählen. Es folgt der nahtlose Übergang in Rosetta Stoned, indem der Mann zu sprechen beginnt, nur komplett durcheinander und mit verzerrter Stimme, vertont durch Maynard James Keenan. Die Musik dazu ist heavy, das Equivalent zu Lateralus' Ticks and Leeches, mit einer der genialsten Drumming-Performances von Danny Carey. Der Name Rosetta Stoned ist ein Wortspiel auf den Rosetta Stone, im Deutschen der Stein von Rosette. Dieser war der Schlüssel für unsere moderne Zivilisation dafür, die ägyptischen Hieroglyphen zu verstehen. Als Metapher wird der Stein auch für einen Schlüssel zum Decodieren von Informationen benutzt. In diesem Falle steht der Stein möglicherweise für LSD oder Drogen generell, durch die das lyrische Ich die Welt verstehen kann.

Über den langen, ruhigen, fast instrumentalen Titel Intension gelangt der Hörer zum genialen Closing-Track zu 10.000 DaysRight In Two; eine fantastische Studie über das Fehlverhalten des Menschen und seine Unfähigkeit aus der Geschichte zu lernen. Auch hier wird wieder das Christentum als Element der Erzählung hinzugezogen. Begleitet wird das mit fetten Riffs, die sich mit ruhigen Parts abwechseln. Hinzu kommt ein Bongo-Solo und ein langes Intro. Und nun lasst die Lyrics gerne einfach einmal sacken:

Angels on the sideline
Puzzled and amused
Why did Father give these humans free will?
Now they're all confused

Don't these talking monkeys know that Eden has enough to go around?
Plenty in this holy garden, silly monkeys
Where there's one you're bound to divide it
Right in two

Angels on the sideline
Baffled and confused
Father blessed them all with reason
And this is what they choose?

Monkey killing monkey killing monkey over pieces of the ground
Silly monkeys, give them thumbs, they forge a blade
And where there's one they're bound to divide it
Right in two
Right in two


Monkey killing monkey killing monkey over pieces of the ground
Silly monkeys, give them thumbs, they make a club and beat their brother down
How they've survived so misguided is a mystery
Repugnant is a creature who would squander the ability
To lift an eye to heaven, conscious of his fleeting time here

Cut and divide it all right in two

Fight over the clouds, over wind, over sky and
Fight over life, over blood, over air and light
Over love, over sun, over another
Fight for the time, for the one, for the rise and

Angels on the sideline again
Benched along with patience and reason
Angels on the sideline again
Wondering where this tug of war will end


Cut and divide it all right in two
Right in two

 

Vielleicht hat man es herausgelesen: 10.000 Days ist mein Lieblingsalbum von TOOL. Im Gegensatz zu ihren vorherigen Werken ist das Album in fast jeder Lebenssituation ein toller Soundtrack. Auch die Musik fällt insgesamt zugänglicher aus, vor allem mit Titeln wie The Pot oder Vicarious. Erster schon fast Pop, mit einer einfachen Songstrukturen und eingängiger Instrumentation. Die Lyrics sind weniger kryptisch sowie gemäßigter formuliert und die Metaphern leichter verständlich. Maynard James Keenan paart das mit einer sängerisch großartigen und etwas anderer Vocal-Performance, was wohl auch daran liegt, dass sich seine Stimme über die Jahre verändert hat. Die Balance zwischen Screams, Distortion und einfachem Gesang hat sich zu letzterem verlagert. Das gefällt mir sehr gut, da ich das ruhige TOOL mindestens genauso genieße wie ihre laute Metal-Facette. Ich verstehe aber auch Kritiken, die sagen, 10.000 Days wäre schwächer als Lateralus oder Ænima. Insgesamt ist das Album weniger experimentell, progressiv, bahnbrechend. Es fühlt sich nicht so komplett und abgeschlossen an und beinhaltet, bei ähnlicher Laufzeit, weniger Material. Ich kann das verzeihen.

10.000 Days auf Spotify: https://open.spotify.com/album/1fvWYcbjuycyHpzNPH1Vfk?si=WGOmx71LSCGursgLl5EAJQ

10.000 Days auf Apple Music: https://music.apple.com/de/album/10-000-days/1474250650


Fear Inoculum [2019]

13 Jahre nach ihrem letzten Release, in denen die Bandmitglieder sich mit juristischen Problemen beschäftigen mussten, tourten und ihren Fans Hoffnungen mit Ankündigungen machten, es würde bald eine neues Album kommen, waren die Erwartungen an TOOL übertrieben gesagt ins Unermessliche gestiegen. Nun ja, 2019 deutete dann alles daraufhin: es passiert! Die Artworks auf der offiziellen Website änderten sich, Tweets zu Fortschritten bei der Aufnahme tauchten auf, eine große Tournee durch Nordamerika war im Gange, auf der zwei neue Songs, Invincible und Descending, gespielt wurden und, nach langer Zeit, stand wieder eine Europa-Tour in den Startlöchern. Handy-Aufnahmen waren zwar generell verboten, vermutlich zu Geheimhaltungszwecken, doch trotzdem sickerten Videos durch, nicht nur zu den neuen Songs, sondern auch zu einem Datum, das während der Konzert-Pausen den Bildschirm dominierte: 30. August. Damit war dann alles klar: ein neues Album. Ein Grund den Maynard James Keenan auch für die lange Wartezeit benannte, war, dass die Band ständig ihre Musik überdachte. Das ist auf Fear Inoculum auch klar zu hören und an den Songlängen zu erkennen: jeder nicht-instrumentale Titel belief sich auf eine Länge von über 10 Minuten; der Closer 7empest auf eine von fast 16 Minuten.

Dem Album-Release vom 30. August ging aber noch etwas voran: nach Teasern und einer klaren Ankünding stellten TOOL am 2. August erstmalig ihren gesamten Katalog, bis auf das Live-Album Salival, auf den Streamingplattformen zur Verfügung. Davor hatte sich die Band immer klar gegen das Streaming von Musik positioniert, da dies, beschönigend gesagt, nicht profitabel für die Künstler selbst ist. Mit dem Release ihrer Diskographie auf Apple Music knackten TOOL beeindruckenderweise mit allen Alben und mehreren Songs und der Debüt-EP die Top 20 der iTunes-Charts. Gleiches passierte auf vielen internationalen Chart-Listen, wodurch die Band mehrere Rekorde brachen. 

Am 30. August erschien schließlich eines der vermutliche meist erwarteten Alben der Dekade. Fear Inoculum holte sich in der ersten Woche in mehreren nationalen Charts den ersten Platz, darunter die Billboard 200. Dabei setzte sich das Album unter anderem gegen Taylor Swifts neuestes durch und bewies damit für viele, dass Rock-Musik und seine Stilrichtungen immer noch großen Einfluss auf die Popkultur haben können. Auch bei den Grammy Awards wurde Fear Inoculum berücksichtigt. So wurde der Titeltrack, der gleichzeitig die einzige Single-Auskopplung war, für die beste Hard-Rock-Performance nominiert. Es war 7empest der einen Grammy gewann, nämlich den für die beste Metal-Performance. Kritiker und Fans nahmen das Album größtenteils positiv auf. Bei Metacritic, der Plattform, die den Score aller großen Musikzeitschriften zu einem Gesamtrating zusammenfasst, erzielte Fear Inoculum 81 / 100, was wirklich gut ist und tatsächlich auch der bis jetzt höchste Metascore der Band ist. TOOL wurden also den Erwartungen der meisten Hörer gerecht oder übertrafen diese sogar, wobei es natürlich auch Fans gab, die Fear Inoculum, aufgrund seines langen Songwritings und der insgesamt ruhigeren Musik, für enttäuschend befanden.

Fear Inoculum wurde in eine digitale und eine physische Version gespalten. Im CD-Format kommt das Album mit 7 Main-Tracks, einer davon das sehr spezielle Drum-Solo Chocolate Chip Trip. Auf den Streamingplattformen ist die erweiterte Ausgabe mit insgesamt 10 Titeln verfügbar. Die drei zusätzlichen Stücke sind Interludes, die sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Ich persönlich bin ein großer Fan von Litanie contre la Peur, dessen Synthesizer-Sounds von einer anderen Welt zu kommen scheinen. Die anderen beiden Interludes kann man sich aber getrost sparen, weshalb TOOL sich vermutlich auch nicht die Mühe gemacht haben, alle Interludes auf die physische Version zu bringen, die wieder einmal mit einem, wie von der Band gewohnt, ganz besonderen Packaging daherkommt, in das ein  aufladbarer Bildschirm mit Lautsprechern und einem Video integriert ist. Das Booklet ist ebenfalls sehr sehenswert, genauso wie die restliche Verarbeitung, mit wie immer sehr spirituellen, kunstvollen Artworks. Der Preis und die Limitierung fallen dementsprechend aus. Mit einer Laufzeit von knapp 80 Minuten hat die physische Version auch die Kapazität einer CD aufgeschöpft.

Die Anzahl der Haupttitel 7 ist wohl kein Zufall. So sind viele der Riffs des Albums in Taktarten mit der Zahl 7 verfasst und das "T" im Namen des Closing-Tracks 7empest wurde durch eine "7" ersetzt. Ansonsten beschäftigt sich Fear Inoculum mit den Themen Furcht, wie der Titel sagt, dem Älterwerden und dem damit einhergehenden höheren Wissen und Weisheit. Besonders auffällig spiegelt sich diese Motive in den Lyrics zum Song Invincible wieder, der mit Polyrhythmen geradezu vollgestopft ist und dessen Zwischenklimaxe meistens von Danny Careys beeindruckendem Schlagzeugspiel definiert werden. Auf Invincible singt Keenan von einem altgewordenen Krieger, der sinnbildlich für TOOL stehen könnte. Genauso klingt nicht nur der Song, sondern auch das ganze Album - im guten Sinne. Fear Inoculum ist ausschweifender, nimmt sich viel Zeit und ist generell gesagt auch ruhiger. Dies ist auch auf das ursprüngliche Konzept des Albums zurückzuführen, nachdem es aus einem einzigen, langen Song bestehen sollte. Das erklärt, warum der letzte Track 7empest eine einzige Klimax ist, auf der Adam Jones ein Riff, Lick und Solo nach dem anderen spielt und so seine bis jetzt beeindruckendste Performance abliefert. Trotz der insgesamt ruhigeren Musik kommen auf Fear Inoculum, besonders im Gitarrenspiel, wieder mehr Heavy-Metal-Einflüsse zu Tage. Die besten Beispiele sind eben 7empest und der apokalyptische Song Descending, der, bei einer wundervollen Vocal-Performance, vom Untergang der Menschheit erzählt und mit seiner Instrumentation genau das verbildlicht. Eingeleitet und beendet wird Descending vom Rauschen des Meeres; dem Ort, aus dem nach dem antiken, griechischen Philosophen Thales von Milet der Mensch stammt und in den er, auf dem Höhepunkt seines Wissens, wieder zurückkehren soll, so wird der Gedanke in Goethes Faust II zu Ende geführt.

Für Fans des essenziellen TOOL-Albums Lateralus, und insbesondere des Hit-Songs Schism, findet sich mit dem Track Pneuma ebenfalls etwas. Keenan kehrt hier zurück zu seinen spirituellen Textthemen. Unterlegt wird das von atmosphärischer Instrumentation, die ein Keyboard-Solo, etwas völlig neues für TOOL beinhaltet, dem eine klassische, eben Schism-esque Bassline gegenübergestellt wird. Bravo! Der vorangegangene Song Fear Inoculum ist, mit Synthesizer-Intro, The Pot-esquer Vocal-Performance und einem furiosen Build-up, das zur fantastischen, wenn auch kurzen Gitarren-Klimax führt, der perfekte Opening-Track für Fear Inoculum (Album). Als letztes nicht besprochen bleibt nun Culling Voices, dessen psychologisch-philosophische Lyrics in Keenans bestem Gesang auf diesem Werk vorgetragen werden, dafür lassen die Instrumente auch sehr viel, atmosphärischen Raum.

Kurz und knapp: Fear Inoculum fasst das Schaffen TOOLs aus den letzten drei Alben (ja, von Ænima lässt sich hier auch etwas finden) zusammen, nur interpretiert von einer Band, dessen Künstler gealtert und eben weiser geworden sind. Die Songs sind dabei ausufernd wie eh und je, was vermutlich ein Produkt des von Keenan angesprochenen Überdenkens, dem sich TOOL vielleicht etwas zu viel hingegeben haben, und ein Überbleibsel des Konzepts von einem Ein-Song-Album ist. Ich persönlich finde Fear Inoculum ist ein sehr gutes TOOL-Album, das den Erwartungen, die ich hatte, mehr als gerecht wird. Dabei hat sich der Sound der Band genug gewandelt, was gewährleistet, dass ein Werk entsteht, welches interessant ist und dennoch den TOOL-Fan zufriedenstellt sowie den neuen Hörer in den Kosmos der intelligentesten und gefeiertsten Alternative-und Progressive-Metal-Band der Welt einführt.

Fear Inoculum auf Spotify: https://open.spotify.com/album/7acEciVtnuTzmwKptkjth5?si=_k5tUdu8R_2G4ubSIGj4vQ

Fear Inoculum auf Apple Music: https://music.apple.com/de/album/fear-inoculum/1475686696


Müsste ich nun als Musikkritiker allen Alben von TOOL ein Rating verpassen, würde dies folgendermaßen ausfallen:

  • Opiate - EP: 7 / 10
  • Undertow: 7.5 / 10
  • Ænima: 9 / 10
  • Lateralus: 9.5 / 10
  • 10.000 Days: 9 / 10
  • Fear Inoculum: 8.5 / 10

* Alle Ratings basieren auf dem jeweiligen Format des Projekts (Album oder EP) und beziehen sich sowohl auf den Diskographie-Kontext, als auch auf den generellen, musikalischen Kontext.


Ein kurzer Guide für Neueinsteiger:

Wer düsteren Metal der 90er mit Punk-und Grunge-Einflüssen mag, der sollte mit Undertow oder Ænima beginnen. Der wichtigste Unterschied zwischen beiden liegt in der Progressivität und Experimentalität, von der Ænima, als Karriere-definierendes TOOL-Album mehr hat.

Wer sich mehr für Progressive-Rock und/oder philosophische Texte interessiert, dem lege ich Lateralus und 10.000 Days ans Herz. Ersteres ist TOOLs Durchbruchsalbum und wird als ihr essenzielles Werk angesehen, letzteres ist etwas zugänglicher und ruhiger. 

Wer jetzt nicht weiter weiß, der hört sich am besten unsere Playlist TOOL: Hit-Songs auf Spotify (klicke hier) oder Apple Music (klicke hier) an. Dort findet ihr die beliebtesten und meistgespielten Songs von jedem Album. 

Seit gewarnt: TOOL ist eine Band, in die die meisten sich reinhören müssen. Dafür wird es dann immer besser.