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Album-Review: Thom Yorke – ANIMA
ANIMA ist das dritte Studioalbum des Radiohead-Sängers Thom Yorke und eine Emanzipierung von den musikalischen Ansätzen und Wurzeln der Band. Mehr noch: Yorke gelingt es mit diesem Album einen ganz eigenen Sound zu entwickeln, der sich aus endlos vielen Komponenten zusammensetzt und trotzdem am Ende beinahe kompakt wird. Zusammen mit Produzent Nigel Godrich entsteht ein Album voller Angst und Horror, aber auch Melancholie und Wärme. Auf der einen Seite sind die Klänge experimentell und befremdlich, auf der anderen Seite heimisch und schön.
Beim Hören von ANIMA, am besten im Dunkeln, setzt sich im Kopf schon fast eine klare Vorstellung von dem zusammen, was man hört. Man erkennt hier die Einflüsse von Yorke's letztem Werk, dem Horror-Film-Score Suspiria, aber auch Elemente, die an Kid A oder The King Of Limbs von Radiohead erinnern.
Komplizierte Rhythmen, eingängige Basslines, dissonant-angekratzte Synthesizer, Kinder-und zeremoniell-klingende Chöre prallen gegeneinander und harmonieren in den Songs. So entstehen innerhalb der Titel, aber auch zwischen den Titeln untereinander, Kontraste. Ein Traum-Beispiel für ersteren Fall ist der Song Twist, den ich gerne zu einem der besten auf ANIMA erklären möchte. Beginnend mit EDM-Beats und Staccato-Rhythmen mischt sich Thom Yorke's zerbrechliche, aber trotzdem feste Stimme in die Klangkulisse, die sich erweitert und Elemente gegeneinander austauscht. Im zweiten Teil des Songs erklingen dann aber schöne Klavierakkorde, begleitet von einem sich bewegenden Schleier aus Synthesizern. Twist wird atmosphärisch und warm, nicht mehr so befremdlich. Die Vocals nun in tieferer Lage.
Dawn Chorus repetitive Harmonien sind dann rhythmisch schwerer zu erfassen und erwecken die oben genannte Kid A-Assoziation. Erst am Ende des Song strahlt Licht in die dunkle, schwere Atmosphäre. Mit nahtlosem Übergang folgt I Am A Very Rude Person, der die Kontrastierung der Songs untereinander exemplarisch hervorhebt. Eine eingängige Bassline und Hip-Hop-Beats prägen, gepaart mit Hintergrundgesängen, das Klangbild dieses Titels. Not The News trägt die Kontraste dann noch weiter, mit piependen Synthesizern und sehr speziellen, aber bezeichnenden Gesangs-Phrasen.
The Axe markiert einen kleinen, stimmungsvollen Höhepunkt des Albums. Hypnotisch wiederholt Yorke die Textzeile I thought we had a deal. Dazu ein Clap-Beat im Hintergrund und vibrierende, wie angsteinflößende Synthesizer. Impossible Knots wiederum bietet einen Gegensatz dazu: Polyrhythmik und wieder eine eingängige, repetitive Bassline.
Der Closer Runwayaway ist dann etwas Kraut-Rock-esque. Wir hören zudem gepitchte Stimmen, Background-Vocals und sich wiederholende Textzeilen. Das alles verpackt in eine bedrohliche Atmosphärik. Wieder treten die zwei Eigenschaften Tanzbarkeit und Hypnotik hervor, in einer Kombination, bei der ich an eine dystopische Disko der Zukunft denken muss. Genauso treffend ist aber auch einfach ein Spaziergang bei Nacht im spärlichen Licht der Laternen, oder ein Abend im dunklen Zimmer voller Momente aus Hoffnung und Depression. Das Wort Anima ist nicht umsonst ein Schlüsselbegriff einer philosophischen Theorie Carl Gustav Jungs, die sich mit Psyche und Bewusstsein des Menschen im Femininen, wie Maskulinen beschäftigt. Anima ist dabei das [feminine] lateinische Wort für Seele oder Geist, und diese Hintergrundinformation passt einfach in vielfältigen Assoziationen zur Stimmung und den lyrischen Themen von Yorke's neuem Album.
ANIMA ist eine Philosophie über das menschliche Bewusstsein und seine Interaktion mit elektronischen Geräten. Diese wird in dystopischen, hypnotischen Klangwelten instrumentiert, die zwischen Licht und Dunkel schwanken. Genauso wie sie zwischen verschiedenen Genre-Einflüssen schwanken. Dabei schafft es Thom Yorke das erste Mal eine komplett unabhängige, eigene Handschrift zu hinterlassen, weshalb ANIMA nicht im Schatten der großen Band Radiohead steht.
9 / 10
Anspieltipps: "Dawn Chorus"; "I Am a Very Rude Person"
Highlights: "Twist"; "The Axe"
ANIMA auf Spotify: https://open.spotify.com/album/5a4VSyY7zsfVVqHweYHG7R?si=izrSFNb4Rzu0oxIlY2Khfg
ANIMA auf Apple Music: https://music.apple.com/de/album/anima/1467347588