Zum Hauptinhalt springen

Album-Review: Steven Wilson – THE FUTURE BITES

Der Prog-Rock-Missionar des 21. Jahrhunderts liefert mit "THE FUTURE BITES" ein dystopisches und in gewissem Maße unvorhergesehenes Indie-Pop-Konzeptalbum über das eigene Selbst und den Konsum im Kapitalismus ab.

The future biting

Soundtechnisch möchte man meinen, Steven Wilson habe gerade sein erstes Soloprojekt veröffentlicht. Dabei ist THE FUTURE BITES schon sein sechstes, vollwertiges Album als Solokünstler, aber es klingt eben das erste Mal wie ein Werk, das nur Steven Wilson ohne Porcupine Tree oder eine Bandbesetzung fabrizieren könnte. Er löst sich also erstmalig von seinem geliebten, musikalisch überkomplexen Prog-Rock und wird elektronischer und schlicht einfallsreicher. THE FUTURE BITES versprüht zwar immer noch Retro-Charme, blickt jedoch auch in die Gegenwart und Zukunft. Wilson entwickelt sich weiter, was auch sein musste und wollte. Den klassischen Prog-Rock hat er in vielen Facetten erkundet und zuletzt um Pop erweitert. Da war Elektronische Musik, ja Indie-Pop der sinnvolle, nächste Schritt. Nur in der Umsetzung überrascht der Meisterarrangeur solcher Rock-Epi wie The Watchmaker oder Ancestral: Die Stücke sind zurückhaltend, werden nie zu laut und bleiben manchmal über ihre volle Laufzeit minimalistisch instrumentiert. Von Pop a la Wilson möchte man auch erwarten, er würde mehr Fokus auf seine Vocals legen – oftmals ein weiterer Trugschluss: Hier spricht mal Elton John und dort Spoken Word (PERSONAL SHOPPER), an vielen Stellen singt ein Frauen-Chor signifikante Phrasen (PERSONAL SHOPPER; EMINENT SLEAZE; SELF) und wenn es dann Wilson selbst ist, hört man seine Stimme oft als weiteres Instrument oder mit Effekten belegt. Umso proggig majestätischer wirkt es darum, wenn er eindeutig aus dem Mix hervortritt oder gar einen ganzen Song lang im Mittelpunkt steht. Was THE FUTURE BITES als einziges wirklich wehtut, ist die Zeit von der Album-Ankündigung hin zum Release. So wurde der Release vom 12. Juni 2020 auf den 29. Januar 2021 verschoben und diese zusätzlich lange Wartezeit hat Wilson mutmaßlich dazu verleitet mehrere Songs vorab auszukoppeln. THE FUTURE BITES zählt insgesamt neun Tracks. Fünf davon wurden im Voraus veröffentlicht, wodurch man die ganze Sound-Palette bereits vor dem Erscheinen des Albums kannte oder zumindest vorhersehen konnte. Zusätzlich kamen folglich am Album-Release weniger neue Songs heraus, als zur Promotion herausgebracht wurden. Dies ist wahrscheinlich ein Grund für die Unzufriedenheit vieler Steven Wilson-Fans mit diesem neuen Album, obwohl eines (dennoch) Fakt ist: THE FUTURE BITES ist vielleicht eines der besten Werke des Prog-Rock-Meisters auf Solo-Tour, in Konkurrenz nur mit Hand Cannot Erase – und es wirkt nur umso besser als Nachfolger zum 2017 erschienen, unfokussierten To the Bone.


Song bei Song durch "THE FUTURE BITES"

Wilson eröffnet sein neues Album mit dem Interlude UNSELF, das titularisch im Kontrast zum zugehörigen SELF steht, aber als sehr passendes Interlude dient. UNSELF wird mit atmosphärischen Akustik-Gitarren und Klavier-Akkorden instrumentiert. All hail to love / And love is hell The self can only / Love itself All hail to love / And love is hell. Mit der letzten Zeile beginnt der catchy Groove zu SELF, angekündigt durch eine entmenschlichte, tiefe Stimme, die den Titel des Songs proklamiert. Der Beat ist etwas Industrial-Rock angehaucht, wird aber auch von einem Indie-Rock palm muted Gitarren-Lick geprägt.

Self-image and self-belief
Selfish acts between the sheets
Self has no sense of tact
Self is too self-detached

Den Chorus übernimmt ein Frauen-Chor für Steven Wilson: We are self, the self that loves itself now und dann das eingängige Gesangsmotiv auf To do-do-do-do, das sich immer wieder wiederholt und SELF einen catchy Pop-Appeal verleiht. Das Gitarrensolo ist ein Höhepunkt des Songs. Hier schrammelt Wilson ein paar robotisch Akkorde, die abwechselt im Stereo-Mix links und rechts zu hören sind.
Der nächste Track KING GHOST hat mich schon als Single sehr überzeugt und schmückt darum den zehnten Platz der Liste zu meinen Lieblingssongs des Jahres 2020. Steven Wilson selbst hat schon mehrfach betont, wie stolz er auf KING GHOST sei, da der Song als einziger vollständig elektronisch instrumentiert ist. So klingt KING GHOST vielleicht etwas kalt, aber gerade das ist ein wichtiges Stilmerkmal, neben den aszendierenden Synthesizern und Wilson's brillanten Vocals, die durch jene tiefe, entmenschlichte Stimme untersützt werden und letztendlich in der Refrain-Phrase trotzdem Gänsehaut auslösen.
Es folgt 12 THINGS I FORGOT, den ich als Single noch für ziemlich generisch hielt – und auch wenn er das im Album-Kontext bleibt, geht der Song, vor allem im Kontrast zu KING GHOST, mit seiner fast pathetischen Emotionalität und den 80s-Drums sowie dem folkigen Zusammenspiel zwischen Akustik-Gitarre und Klavier richtig auf. 

There was a time when I had some ambition
Now I just seem to have inhibitions
Forget what I said
'Bout acting on all the plans that I made
Now I just sit in the corner complaining
Making out things were best in the 80s

12 THINGS I FORGOT

EMINENT SLEAZE kommt im Steven Wilson-Fandom nicht so gut weg, was ich nicht ganz nachvollziehen kann. Aber na gut, der Unterschied zwischen Fan- und Kritikerbewertungen des gesamten Albums spricht da für sich. EMINENT SLEAZE's glatte Bassline jedenfalls regt sofort das Interesse des Hörers und wird im Laufe des Songs mit parallel spielenden Streichern und typischer Hammond-Orgel ergänzt, während ein proggiger Frauen-Chor ein weiteres Mal den Chorus beisteuert. Die Gitarre am Ende ist zudem ein super Callback zum Solo von SELF mit diesen schrammeligen Industrial-Rock-Anleihen. 
Der Release von MAN OF THE PEOPLE ein paar Tage bevor THE FUTURE BITES in Gänze herausgekommen ist, ist etwas, das mich wirklich ärgert. Diese letzte Auskopplung war nun wirklich nicht mehr notwenig, Mr. Wilson! Nichtsdestotrotz, MAN OF THE PEOPLE ist der emotionalste Moment des Albums. Hier liefert Steven Wilson indirekt den Gegenentwurf zu der kapitalistischen Gesellschaft, die er kritisiert. Es geht um den Mann der einfachen und armen Leute – jemanden mit Empathie. Das spiegelt sich eben auch in der gesamten Musik wider, die passend dazu auf emotionaler Ebene viel greifbarer ist, als alles zuvor – vielleicht mit Ausnahme von 12 THINGS I FORGOT, wenn man sich auf dessen Kitsch einlassen kann. Insofern ist MAN OF THE PEOPLE das perfekte Vorspiel für das zehnminütige Epos von THE FUTURE BITES...
PERSONAL SHOPPER kann man wohl als Inbegriff und Kernessenz des Albums bezeichnen. Zuerst hört man Wilson's Falsetto, darunter eine 80s-Synth-Instrumentation, die sich hin zur Rückkehr jenes Frauen-Chors der schon EMINENT SLEAZE's Refrain beisteuerte, intensiviert:

Buy for comfort, buy for kicksBuy and buy until it makes you sick
Buy for England, buy it allBuy online and in the shopping mall
Sell it on then buy it backBuy the shit you never knew you lacked
Buy the update to competeBuy the things that make your life complete

Darauf folgt ein fast clichéhaft klimaktischer, harmonisch komponierter Prog-Rock-Gesangshöhepunkt von Wilson, der in klarem Kontrast zum eben zitierten Chorus steht, diesen aber lyrisch erweitert:

Consumer of life
Hold my hand, extend your rights
It's the power to purchase to excess
That sets you apart and can give you the ultimate high

So wechseln sich die einzelnen Parts ab mit beißender Ironie und eben großartig umgesetzter Gesellschaftskritik. Es folgt der von Elton John eingesprochene C-Teil, der sich des bis jetzt vorherrschenden Dance-Grooves entledigt. Elton John rezitiert dann all die Güter, die vom Kapitalismus ins Leben gerufen wurden, die man nicht braucht, aber sich trotzdem kauft, weil der Konsumdrang einen dazu bringt. Dinge, die – kurz gesagt – unnötig sind, so wie z.B.: Zahnweißmacher, Deluxe Edition Box Sets, Vinyl Reissues, Vulkanaschenseife, Anti-Aging Creme, Detox-Getränke und so weiter. Nach jedem dieser aufgezählten Produkte folgt ein Streich auf der Akustik-Gitarre, was eine glorifizierende Atmosphäre erzeugt, als würde man in einem Werbespot das jeweilige Produkt sehen und dann scheint noch einmal die Sonne darauf, um es in einem möglichst herrlichen Licht darzustellen. Die Predigt der Konsumgesellschaft wird schließlich zunehmenend unterwandert von weiteren Worten: Selbstbesessenheit, Selbstverteidigung, Selbstliebe, Selbstkontrolle, Selbstzweifel, Selbstgenuss, Selbstwert und Selbsthilfebücher. Das kulminiert in einem Durcheinander an Wörtern, das wieder von jenem, sich langsam anbahnenden Dance-Groove durchbrochen wird. Wilson's Stimme kehrt zurück (Consumer of life ...), ehe der Frauen-Chor wieder in den Song eindringt. Das finale Gitarrensolo komplettiert schließlich den Aufbau hin zur Klimax. Beendet wird PERSONAL SHOPPER aber natürlich von den unbesiegbaren Konsumgütern des Kapitalismus und den Selbst-Problemen, die sie verursachen, unterstützen oder kontrastieren. PERSONAL SHOPPER war kein Favorit meinerseits während seines Single-Daseins, aber wie so oft bei diesem neuen Steven Wilson-Projekt erblüht dieses Meisterwerk erst im Kontext des Konzeptalbums und unter Berücksichtigung der lyrischen Bedeutung zu wahrer Größe.
FOLLOWER beschreitet als Nachfolger wieder die Pfade des Pop-Rock. Bei diesem Song handelt es sich um den groovigsten und Steven Wilson typischsten Moment des Albums. Die Drums sind eingängig und spielen ein schnelles Tempo, über das Wilson hier ein einprägsames Follow me! Follow me! drübersingt und dort seine Gitarre spielen lässt. FOLLOWER ist, wie der Name schon sagt, eine Kritik an den sozialen Medien und der Selbstinszenierung des Lebens und von Lebensteilen. was am besten in folgenden, rhetorischen Fragen zu Tage tritt:

Do I wanna be fucked like you are?
Do I wanna have a body like yours now?
Do I wanna have friends like you have?
Do I wanna have a life like you do?

COUNT OF UNEASE schließt THE FUTURE BITES als antiklimaktischer und meditativer Closer mit Radiohead-Einflüssen ab, eben irgendwie in klassischer Steven Wilson-"Balladen"-Manier. Die Percussions werden von synthetischen Rasseln leise und behutsam beigesteuert, die Synths hängen wie Nebel darüber und eine Bassline spielt gelassen während ein atmosphärisches E-Gitarrensolo den Hörer in Träumen schwelgen lässt. Dicht und bassiger wird COUNT OF UNEASE nur während der Strophen, in denen Klavier-Akkorde Steven Wilson's Vocals, die zwischen Thom Yorke und Peter Gabriel schwanken, untermalen. Es ist ein toller Abschluss für ein atemberaubendes Album voller Wendungen, Retro-Einflüssen, wiederkehrenden Motiven und Steven Wilson's Ambition seine Musik zu elektronisieren.


Fazit

Steven Wilson hat mich mit THE FUTURE BITES wirklich nochmal überrascht, was umso überraschender angesichts dessen ist, dass nur vier neue Songs zum Album-Release das Bild zufriedenstellend zu vervollständigen in der Lage sein mussten – und einen von ihnen muss man sogar als Interlude bezeichnen. Tja, in einigen Songs habe ich mich zugegebenermaßen ohne den Kontext der restlichen Titel wirklich getäuscht. Sogar 12 THINGS I FORGOT, den ich vorher wirklich als an der Grenze zum Schrecklichen empfand, ergibt nun Sinn als eine Art stimmungsvoller, analog instrumentierter Höhepunkt. THE FUTURE BITES ist auch songwriterisch ganz neues Gefilde für Steven Wilson; bauen sich seine Songs normalerweise hin zu einer Klimax auf, sind sie hier oftmals ohne wirklich wahrnehmbare Steigerung. Dieses Konzept kann ein Album auch wirklich langweilig machen, aber nicht so THE FUTURE BITES, was auch an der relativen – also verglichen mit seinem restlichen Katalog – Kürze der einzelnen Songs und gefühlt des ganzen Albums liegt. Das ist aber wohl beabsichtigt, denn wenn man auf das Bonus Material des Projekts guckt, findet man noch so einige, doppelt so lange Extended Versions. Es war Steven Wilson's (Co-)Producer David Kosten, der den Musiker dazu ermahnte, sich kurz zu fassen – kommerziell und, wie sich herausstellt, auch musikalisch die richtige Entscheidung. Einzig, dass THE FUTURE BITES bei den vorhandenen, völlig neuen B-Sides und Bonus-Tracks kein Doppelalbum geworden ist, stört mich. Vielleicht liegt der Grund in den größeren stilistischen und lyrischen Differenzen.
Letztendlich entwirft THE FUTURE BITES nämlich eine technische und gesellschaftliche Dystopie der Gegenwart, die musikalisch immer noch am Prog-Rock und den 80ern hängt, aber niemals alte Elemente generisch einsetzt oder ohne Neuartigeres stehen lässt. Das großartigste an THE FUTURE BITESSteven Wilson nimmt sich niemals zu ernst. Er nimmt sich NICHT von der Konsumgesellschaft aus. Er zählt sich dazu und berichtet trotzdem hämisch, sarkastisch, ja zynisch über die grotesken Erscheinungen der Zeit, die er, in Form der physischen Varianten des Albums, reproduziert und somit parodiert.
Gleichzeitig schiebt Wilson berührende und ruhige, von seinem Falsetto geprägte Titel ein, die nicht von der generellen Stimmung ablenken. Ich würde also gerne sagen, THE FUTURE BITES wäre Steven Wilson's bestes Album bis jetzt – gerade weil das so kontrovers wäre, denn die Hörer, die einen Knall oder eine emotionale Achterbahn wie Hand. Cannot. Erase. erwartet haben, die, die immer das gleiche hören wollen und am liebsten das nächste The Raven That Refused to Sing hätten, die werden THE FUTURE BITES nicht mögen. Es ist eben anders, als seine Vorgänger.

8 / 10
... und 10 / 10 für das Projekt in seiner Gesamtheit!

Anspieltipps: "KING GHOST"; "SELF"
weitere Highlights: "PERSONAL SHOPPER"; "MAN OF THE PEOPLE"; "EMINENT SLEAZE"; "FOLLOWER"


Zitat

""Self" is about our new age of narcissism and self-obsession, one in which a human race that used to look out with curiosity at the world and the stars now spends much of its time gazing at a little screen to see themselves reflected back in the mirror of social media."

""Self" handelt von unserer neuen Ära des Narzissmus und der Selbst-Obsession; einer in der die Menschen, die einmal mit Neugier auf die Welt und die Sterne geblickt haben, jetzt mehr Zeit darauf verwenden auf einen kleinen Bildschirm zu starren, um sich selbst durch den Spiegel der sozialen Medien widergespiegelt zu sehen."

Steven Wilson über "Self"

Self sees a billion stars / But still can only self regard

Steven Wilson in "Self"


THE FUTURE BITES auf Spotify: https://open.spotify.com/album/3pKcnjRoxCR1XMIHqBxn3L?si=Y_uqhXOHScWlHEgGguEVwA
THE FUTURE BITES auf Apple Music: https://music.apple.com/de/album/the-future-bites/1530202084

Auch enthalten in SLOTH-SOUNDs 2021 Release-Radar auf Spotify (klicke hier) und Apple Music (klicke hier).