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Essenzielle Alben: Radiohead's "OK Computer" ist zu seinem 23. Geburtstag aktueller denn je

Nach 23 Jahren ist "OK Computer" wieder aktueller denn je; ein Essay zur real gewordenen Dystopie einer depressiven Band aus 1997.

Nach 23 Jahren ist OK Computer wieder aktueller denn je. Es ist fast schon beängstigend, wie eine Brit-Rockband aus den 1990ern mit ihrem Monumtenalwerk und erstem musikalischen, wie lyrischen Leftturn die Zukunft vorhergesagt hat. Der Titel des Albums "Ok Computer" ist hierfür bezeichnend. Damals noch eine komplett unbekannte Phrase, heute in unser gewöhnliches technologisches Leben mit Befehlen wie "Ok Google" oder "Hey Siri" so integriert, dass man meinen könnte Apple oder zumindest Google hätten sich direkt von Radiohead inspirieren lassen. Dabei war es eine dystopische Vision des 21. Jahrhunderts die Thom Yorke und Co. mit ihrem 1997er-Album zeichnen wollten und keine Blickwinkel auf die Realität. 


Die Initialzündung für OK Computer war die Single Lucky, veröffentlicht schon 1995, im Rahmen des Charity-Albums Help Album mit einer düsteren Atmosphäre, in der das lyrische Ich den Zusammenprall zweier Flugzeuge überlebt. Schon hier erkennt der Hörer die Paranoia, die Thom Yorke in dieser Zeit geprägt haben muss. In diesem Falle bezogen auf den Personentransport. Daraus entstand, so sagte Yorke nach Release von OK Computer, die Idee des Albums: Die Außenwelt, die Umgebung sollte alles sein, was zählt. Ein klarer Kontrast zum Vorgänger The Bends, indem sehr persönliche, emotionale Themen angesprochen wurden.
Das Internet gewann an Signifikanz und Radiohead fühlten sich abgeschotteter, unverbundener mit der Welt, die von Technologie immer mehr beeinflusst wurde, denn je. Umso erstaunlicher oder logischer ist es, dass die Band, beflügelt vom Erfolg des Vorgängers, die Produktion des Albums selbst in die Hand nahm und zu dieser in das abgelegene, alte Herrenhaus St. Catherines Court zogen. Mit selbst zusammen gestelltem Equipment wurde hier OK Computer fertiggestellt; von Radiohead's Label angesehen als ein kommerzieller Schuss ins Knie, gar in den Kopf. Sie konnten ja nicht wissen, dass OK Computer die größten Charterfolge einbringen und Bestenlisten stürmen würde. Und nicht nur das: es sollte auch maßgeblich die britische Musikszene vorantreiben - weg vom Brit-Pop, hin zu mehr Melancholie und Experimenten mit elektronischer Musik. Radiohead selber sehen ihr Meilenstein nicht als Pionierwerk, sondern als der, wenn auch im Guten gescheiterte Versuch ihren musikalischen Idolen nachzueifern. Thom Yorke nennt Miles Davis' Jazz-Fusion-Werke als grundlegenden Einfluss. Die Liste geht weiter mit Songs wie A Day In the Life von den Beatles als Ideengeber für ein ambitionierteres Songwriting und der deutschen Kraut-Rockband Can als Vorbild für die Produktion von OK Computer. Lyrisch waren es, wie schon auf Lucky zu bemerken, die Werke von Noam Chomsky, die großen Einfluss auf die politischeren Themen des Albums hatten. Trotzdem ist OK Computer für die Oxforder Gruppe kein Konzeptalbum, wie die Bandmitglieder in einigen Interviews verlauten ließen. Ed O'Brien umschreibt es als ein Werk, indem der Kontext eines jeden Songs entscheidend ist, indem eine Kontinuität herrscht. Immerhin saßen Radiohead auch zwei Wochen lang daran, in welche Reihenfolge man die Tracks nun bringen sollte. Entstanden ist letztendlich etwas, dass einem Konzeptalbum sehr nahe kommt, aber vielleicht keines ist. Das ist eine Frage der Definition, denn der Fakt bleibt bestehen, dass sich eine Reihe an Einflüssen und Themen durch jeden Titel ziehen: Isolation, Angst, Paranoia, Technologie und ihre Macht über den Menschen. Der Opener Airbag greift besonders letzteres auf. Als Metapher wird eine Nahtoderfahrung bei einem Autounfall verwendet. Dass das lyrische Ich stirbt wird dabei nur vom Airbag abgewendet. Die Technologie verursacht den Unfall, der zum Tod führen könnte, und verhindert diesen. Aus der Nahtoderfahrung kehrt das lyrische Ich zurück und fühlt sich lebendiger als je zuvor. Musikalisch fällt Airbag besonders durch seine rockigen Gitarren und verzerrten Drums auf, die mithilfe von elektronischen Spielereien in ein wirbelndes Chaos verwandelt werden, dass durch Thom Yorke's Falsett zusammengehalten wird.

Mit Paranoid Android gelingt Radiohead dann die Brücke zwischen Brit-Rock und Progressive. Es ist vielleicht der beste Song, den die Band je fabriziert hat. Thom Yorke vermischt in seinen Lyrics Erfahrungen und Beobachtungen seiner Umwelt und singt über den Verlust der Individualtät des Individuums. Beginnend mit einem Akustik-Gitarren-Intro in G-Moll wechselt die Tonart im zweiten Teil des Songs A-Moll. Es folgt eine Zwischenclimax in Form eines Gitarrensolos. Die Bridge entschleunigt den Song wortwörtlich, mit einem Tempowechsel und Yorke's phänomenalen Vocals (Rain down, Come on rain down, on me). Beendet wird Paranoid Android von einem zweiten Gitarrensolo mit neuen Riffs und viel Energie. Musikalische Abkühlung bietet danach das ruhige Subterrarean Homesick Alien, indem es um Abgeschiedenheit und Isolation geht. 

Exit Music (For a Film) ist ein weiteres Songwriting-Meisterstück, indem Thom Yorke's Vocals ungewohnt vordergründig und tief auf Akustik-Gitarren entlanggleiten. Seine von Romeo & Julia beeinflussten Lyrics, der Song diente auch als Credit-Track für den Film Romeo + Juliet, handeln vom Entkommen des Menschen aus der Kontrolle, aus der Unmündigkeit, die hier vom Vater symbolisiert wird, vor dem das lyrische Ich und seine Geliebte fliehen. Der Höhepunkt der Geschichte wird von klimaktischen Streichern in einer intensivierten Klangkulisse eingefangen.

Let Down bringt die elektrischen Gitarren und Pianos zurück und vereint sie zu einem dichten und vollen Klangbild, indem ein Klecks Brit-Pop zu erkennen ist. Das vordergründige Lick von Jonny Greenwood wird dabei in einer anderen Taktart gespielt. Die Atmosphäre ist traurig und gleichzeitig irgendwie aufrichtend. Beendet wird Let Down von einem Duo zwischen einem Synth und einer Gitarre, in der beide um die Oberhand kämpfen. Das Robotische gewinnt letztendlich am Ende des bekannten Folgesongs Karma Police, dem vermutlich Brit-poppigsten Titel von OK Computer, indem Akustik-Gitarre und Piano eine wundervolle Symbiose eingehen. Sie geben sich wie gesagt am Ende geschlagen und die synthetische, fast gruselige Stimme einer Maschine betet den Algorithmus des konformen, (un-)idealen Menschen herunter. Fitter, happier, more productive, comfortable (not dringking too much), regular exercise at the gym (3 days a week) ... 

Die Befreiung vom Joch dieser Maschine erfolgt mit dem Jaulen und Schreien der elektrischen Gitarre von Electioneering, dem rockigsten, direktesten Track des Albums. Das gilt auch für die Lyrics, in denen Thom Yorke ohne Blatt vor dem Mund einfach politisch wird.
Der Kampf zwischen Mensch und Androiden ist jedoch nicht vorbei. OK Computer stürzt ins Chaos mit den verzerrten Synths, Gitarren und Schreien Thom Yorke's von Climbing Up the Walls - dem aufgebrachten Vorboten von Kid A. Fast pervers kontrastiert wird das wiederrum mit dem kindlichen, verspielten Glockenspiel auf No Suprises. Dichter an Harmonie kommt man auf Ok Computer nicht mehr. Das musikalische dieses Songs steht aber dem Text gegenüber, der von einem unerfüllenden, glücks-und überraschungslosen Leben nahe am Suizid berichtet.

OK Computer's Closing Track The Tourist steht dem Rest des Albums gegenüber und ist deshalb so perfekt als Abschluss. Thom Yorkes Depression, ausgelöst von seinem vorangegangen, durch die The Bends-Tour ausgelösten Burn-out, führte, dass er, wie einige seiner Kollegen offenbar auch, seine Verbindung zur neuen Welt verloren hat. Alles ging zu schnell, zu schnell voran. "Slow down, idiot, slow down", singt Thom Yorke über einer Klangkulisse die viel Raum offen lässt, untypisch für OK Computer. Es ist vielleicht genau das, was sich Yorke von seiner Umwelt in dieser Phase seines Lebens gewünscht hätte. 

OK Computer ist ein Kind seiner Zeit, musikalisch auch der vergangenen Zeit, lyrisch vor allem der Zukunft. Einer dytopischen Zukunft, die aus von vielen Standpunkten aus betrachtet, keine Dystopie, sondern Realität ist. Eine vertonte Dystopie, die aus dem Kopf eines jungen, depressiven Künstlers stammt, hat es geschafft zu unserer Gegenwart zu werden. 

10 / 10


Im Rahmen des 20-jährigen Jubiläums gab Radiohead 2017 erstmalig eine selbst aufgelegte Remastered-Variante des Albums heraus, die eine zweite zusätzliche Disk mit B-Sides aus den OK Computer-Sessions beinhaltet. OKNOTOK heißt diese 20th Anniversary-Auflage. Wer sich Radiohead's ersten Meilenstein also nun anschaffen will, dem sei empfohlen sich diese Variante zu holen. NOTOK, gestaltet als eigenständiges, fließendes Album, beinhaltet unter anderem den großartigen Rock-Song Man of War, der, wie die Streicher-Arrangements hier und da implizieren, als Titeltrack für einen James Bond-Streifen entstand. Zwar ist das B-Side-Material weit nicht so gut wie OK Computer selbst, doch es wäre, für jede andere Band als Radiohead, ein recht gelungenes Full-Length-Album. Das Remaster von OK ist zudem eine weitere Verbesserung für ein ohnehin, besonders für den 90er-Standard, gut abgemischtes Werk.

OK (Remastered): 10 / 10

NOTOK: 6 / 10

OKNOTOK: 10 / 10


OK Computer auf Spotify: https://open.spotify.com/album/7dxKtc08dYeRVHt3p9CZJn?si=TpYbLw0mQkWDnMua9J_OIA

OK Computer auf Apple Music: https://music.apple.com/de/album/ok-computer/1097861387