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Album-Review: black midi – Hellfire
Wenn Cavalcade ein Drama war, ist Hellfire ein epischer Action-Film.
Das schreibt Geordie Greep, Sänger von black midi, zu ihrem neuen Album. Die erste Single unterstrich dies: Welcome to Hell ist wie ein Kriegsfilm a la Full Metal Jacket.
Die gesamte erste Hälfte von Stanley Kubricks Meisterwerk spielt sich in einem Ausbildungscamp ab, indem der Drill-Sergeant seine Untergebenen bis ans Äußerste demütigt.
black midis Welcome to Hell ist aus der Sicht eines solchen Sergeant geschrieben. Er heizt einem Private namens Tristan Bongo ordentlich ein: So üben black midi Kritik an militärischen Strukturen und der Glorifizierung von sogenannten Kriegshelden.
To die for your country does not win a war
To kill for your country is what wins a war
Fast jede Figur, die in Hellfire vorkommt, sei ein Dreckssack, fährt Geordie Greep fort. Tristan Bongo ist da noch die Ausnahme, eine Art Protagonist.
In Eat Men Eat vergiftet der Captain einer Bergbauanlage seine Arbeiter. Ihre Magensäure wird gebraucht, um einen in der Region beliebten Wein herzustellen. Ein schwules Paar, das zufällig in seine Hände fällt, schafft es ihm das Handwerk zu legen. Eat Men Eat ist außerdem der erste Song geschrieben und gesungen von Bassist Cameron Picton.
The Defence behandelt einen Bordellbesitzer mit Retterkomplex gegenüber den Prostituierten. Gleichzeitig scheint sich der Bordellbesitzer der Verwerflichkeit seines Unternehmens bewusst zu sein. Er gibt den Freiern die Schuld: Nur durch sie existiere die Branche.
A brothel is a business no different than a bank
As safe and as formal and sanitary
My girls all destined for Hell
Or so says our priest
But find me a Christian
Who spends as much time on their knees
Sugar/Tzu erzählt von einem wahnhaften Fan, der einen Boxer erschießt, kurz nachdem er ihm die Hand geschüttelt hat. Sein Ziel: Durch die Tat berühmt werden. Die Geschichte erinnert stark an die Ermordung John Lennons.
All diese Figuren werden in The Race Is About to Begin im Rahmen eines Pferderennens zusammengebracht, das der Private Tristan Bongo besucht. Passenderweise greift der fast achtminütige Song das Gitarren-Riff aus Welcome to Hell wieder auf. Das Riff ist quasi das filmmusikalische Thema das Private. Am Ende wird er süchtig nach den Wetten auf Pferderennen und bleibt für Jahrzehnte in der Arena hängen.
Krieg, Prostituierte, Pferderennen, Deserteure, Mörder, Wahnsinn: Sprachlich und inhaltlich erinnern die Geschichten von Hellfire an die Literatur des Expressionismus. In ihr wurden ebenfalls ausgestoßene Gesellschaftsgruppen aufgegriffen, der Ekel von Lazaretten und die Reizüberflutung in der Stadt werden thematisiert, die Individuen sind vom Krieg gezeichnet, haben Angst vor Identitätsverlust. black midi vertonen das perfekt mit ihrem typischen Sound. Der kann ebenfalls verwirrend, eine einzige Reizüberflutung sein: Die Instrumentationen sind chaotisch und vielschichtig, der Gesang ist theatralisch.
black midi waren noch nie so atmosphärisch in einigen Momenten und so heavy in anderen, wie auf Hellfire. Wenn es lauter und intensiver wird, verfällt Greep manchmal fast schon ins Rappen. In den ruhigen Passagen haben viele Songs Flamenco-, Folk- und besonders Jazz-Anleihen. Mit Still liefern black midi sogar einen ihrer schönsten Songs bisher ab.
Doch die größte Stärke dieses Projekts ist seine inhaltliche Kohärenz und die starken, zitierfähigen Textpassagen in Songs wie Welcome to Hell, The Race oder The Defence.
"Wenn Cavalcade ein Drama war, ist Hellfire ein epischer Action-Film."
Ich mag dieses Zitat – nicht nur weil es das Gefühl beider Alben auf den Punkt bringt, sondern auch weil es sie in eine Beziehung setzt: Sie gehören irgendwie zusammen. Der Vergleich, welches Album nun besser ist, erübrigt sich, denn sie kommen ja aus unterschiedlichen Genre: Drama und Action.
Die Alben sind sich ähnlich. Sie haben den typischen black midi-Sound. Gleichzeitig sind sie verschieden, denn sie kommen aus unterschiedlichen Genre: Drama und Action, Impressionismus und Expressionismus.
9 / 10
Anspieltipps: "Welcome to Hell"; "Eat Men Eat"; "Sugar/Tzu"
weitere Highlights: "Still"; "The Defence"; "27 Questions"
Tracklist und Rating
- Hellfire | 75
- Sugar/Tzu | 90
- Eat Men Eat | 90
- Welcome to Hell | 100
- Still | 85
- Half Time | NR
- The Race Is About to Begin | 80
- Dangerous Liaisons | 80
- The Defence | 85
- 27Questions | 85