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Bilderbuch: Österreicher-Buben & Retter des deutschsprachigen Pop - Künstlervorstellung | Teil 4: Freiheit

Der Doppelschlag von Bilderbuch ist das Resultat aus viel Freiheit und Gefühl.

Am 04. Dezember 2018 veröffentlichten Bilderbuch mea culpa - gerade ein paar Tage nachdem es angekündigt worden war. Keine Promo, keine Singles, keine Hits vorweg. Das fünfte Studioalbum der Band wurde vorerst nur digital released und sollte dann in physischer Form zum Veröffentlichungsdatum des Schwesteralbums Vernissage My Heart nachgereicht werden. Beide Werke entstanden im Jahre 2018, dem Jahr der Freiheit für Bilderbuch. So nahmen sie sich im Oktober drei Wochen Urlaub in einem nicht unluxiorösen Haus in Kroatien. Laut Maurice Ernst war dies keinesfalls ein Arbeitsaufenthalt, sondern ein Urlaub, um eine gute Zeit zu haben und um sich inspirieren zu lassen. Aufgrund dieser Abwesenheit von Druck, der Abgelegenheit von der Gesellschaft und der Idee von musikalischer Freiheit - so sprach Ernst davon, dass man sich keinerlei Grenzen setzen wollte - entstanden schnell neue Ideen, die beeinflusst waren von den Beobachtungen der Musiker, aber auch von verschiedensten Personenkonstellationen innerhalb des Quartetts. So ist Frisbeee eine spontane Eingebung von Snacky Mike aka Michael Krammer und Maurice am Frühstückstisch, während Taxi Taxi daraus resultierte, dass Peter Horazdovsky "einfach nur alleine da saß [sitzt] und seinen Kaffee trank [trinkt] und immer wieder diesen Synth machte [macht]". Schlussendlich wurden aus all diesen Konzepten insgesamt 19 Songs. Doch anstatt ein Doppelalbum oder ein Superalbum zu kreieren, teilten Bilderbuch das Material auf zwei Alben auf. Auf die Frage hin, warum es denn kein Doppelalbum geworden sei, sagte Maurice Ernst bei Willkommen Österreich: "Bilderbuch ist trotzdem auf die Länge schon eine anstrengende Band, auch zu hören", und das hatten sie mit ihrem letzten Werk Magic Life eindrucksvoll bewiesen. Ein Superalbum sollte es aber auch nicht werden. Man wolle lieber alles abdecken, was man entdeckt und geschrieben hatte. Man wolle nicht seine "eigenen Babys killen", sondern die vielen Facetten einfangen. Also wurden es zwei Alben: mea culpa und Vernissage My Heart. Die Trennung der Titel war eine spontane Eingabe, so Maurice Ernst, er habe die Tracks innerhalb von fünf Minuten bei iTunes geordnet und so blieben sie auch. Ein Wunder, dass aus solch einem Schachzug ein entspannendes Konzeptalbum und dessen liberales, rockiges Gegenteil wurden.

mea culpa kam also aus dem Nichts. Niemand wusste, was zu erwarten war und bis auf Megaplex kannte niemand auch nur einen Sound des neuen Bilderbuch-Albums, dessen Titel, übersetzt ins Deutsche, meine Schuld bedeutet. Hinter dem pinken Cover, auf dem ein Mini-Ventilator die Worte "I LOVE YOU"leuchtet, versteckt sich ein romantisches, konzeptionelles Werk voller Melancholie. Es ist ein digitale Melancholie oder eine Romantisierung des Digitalen. Das schwarze Display aus Sandwishes, das Immer-online-sein-aber-nicht-antworten aus Taxi Taxi oder die große Hommage an das Kino in Megaplex - das alles sind Versuche des Sängers die alten, klassischen Bilder von Romantik auszutauschen. Maurice Ernst selber sagt, er wolle damit den Paradigmenwechsel im Verständnis von Romantik aufgreifen. Bilderbuch tun hier also thematisch das Gegenteil von Magic Life. Sie wollen nicht erschrecken und polarisieren, nicht ihre politischen Messages unter verschrobenem Pseudo-Dadaismus verstecken. Sie werden ernsthafter, ohne sich dabei ungesund ernster zu nehmen, als sie es zuvor taten. Das spürt man auch in den tiefen, brummenden Bässen und nebelartigen Synthesizern von mea culpa. Besonders Taxi Taxi versetzt einen mit diesen Elementen in eine angenehme Trance, aus der der Hörer mehr oder weniger seicht herausgerissen wird, wenn der per Mund erzeugte Funk-Beat von Lounge 2.0 einsetzt. Dein iPhone X treibt dich aus deinem Schlaf, doch du schlummerst und schlummerst und schlummerst, ist es was Maurice Ernst passenderweise singt oder gar rappt. Zum Glück gehen Michael Krammers Gitarren-Licks- und Spielereien nicht verloren, auch wenn sie weniger Raum bekommen. Auf Mein Herz Bricht, dass von dissonanten Akkorden und einem eingängigen Drum-Beat geführt wird, klingt sein zweimal eingesetztes Lick wie frisch von den Beatles geschrieben. Hier nimmt mea culpa langsam an Fahrt auf und entfernt sich zunehmend vom Hip-Hop und Cloud-Rap. Es beginnt Megaplex, mit rhythmischen Dead-Notes auf der Gitarre und atmosphärischen Gitarreneinwürfen und Soundeffekten. Das live noch explodierende Ende des Titels wurde zweckgemäß für die Studioversion jedoch auf volle und verzerrte Gitarren reduziert. Ein Glück ist, dass Memory Card das gleich mit kreischenden, abgehackten Riffs wieder gut macht, die in den Strophen dem Bass weichen müssen. 29 und ich brauch deinen Sex / Wo war der Checkpoint? Gib mir ein Reset, singt Maurice, bevor es in den Refrain geht: Du bist auf meiner Memory Card. Seinen Höhepunkt findet mea culpa aber im vorletzten Song Checkpoint (Nie Game Over), der von Maurice auch als schönster Liebessong von Bilderbuch und als einer ihrer besten generell gewertet wird. Tatsächlich bringt die Indie-Rock-Nummer mea culpas Build-up auf den Höhepunkt, bevor der Zuhörer mit den angenehmen Bässen und Gesängen von Aloe Vera eingeschläfert wird.

Für mich ist mea culpa ein tolles Album - wahrscheinlich nicht Bilderbuchs bestes, aber das war ja auch nicht der Anspruch der Band. Die Musikkritik nahm das Album sehr gemischt auf. Die einen zerissen es, die anderen unterstützten die fortgehende Kreativität des Quartetts, die sich in neuen Genre-Fusionen und untypischen Songstrukturen manifestiert. Mich haben die Österreicher-Jungs mit ihrem fünften Werk davon überzeugt, dass sie kein schlechtes Album schreiben können. mea culpa ist weniger heiß und sexy als seine beiden Vorgänger. Es ist ein milderes Album, dass sich die Romantik zum obersten Leitmotiv nimmt, während subtil und mit großer Poetik über das Leben philosophiert wird. Daraus resultiert ein melancholisches, mildes Erlebnis im Bilderbuch-Stil und mein persönlicher Favorit der Band.

Kontrakariert wird mea culpa von seinem Schwesteralbum Vernissage My Heart, das am 22. Februar 2019 erschien. Diesmal dachten sich die Jungs von Bilderbuch einen neuen Marketing-Stunt aus, um ihr sechstes Studioalbum zu promoten. Zunächst brachten sie eine Single mitsamt skurrilem Musikvideo Anfang Februar heraus: LED Go. Auf der Tracklist zu Vernissage My Heart zeichnete sich noch ein anderes Highlight ab: der fast 10-minütige Closer Europa 22. Zur großen Überraschung wurde gerade dieser Longplayer als zweite Auskopplung gewählt - das aber eher aus anderen Gründen. Denn am 17. Februar, zwei Tage nach dem Release des Tracks selbst, starteten Bilderbuch eine Aktion, die den deutschsprachigen Bereich der sozialen Medien, besonders in der politischen und musikalischen Branche, durchzog. Wie der Name bereits sagt, ist Europa 22 eine Hymne an Europa, auf der die Hoffnungen einer ganzen Generation in dieses große Projekt von Ernst einbezogen werden. Mit seiner nostalgischen Romantisierung von Europa möchte er erreichen, dass die Leute sich bewusst werden über die Bedeutung der Union. Sie sollen die Augen aufmachen (I better open my eyes / Ich mach die Augen auf) und erkennen, dass Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Passend dazu riefen Bilderbuch also bilderbucheuropa.love ins Leben - eine Seite auf der man sich einen europäischen Pass erstellen konnte und immer noch kann. Das ist auch ein Aufruf gegen die nationalistischen Strömungen, die seit Jahren in vielen europäischen Ländern (wieder) gedeihen. Es ziehen sich Themen wie Freiheit durch die Lyrics von Europa 22, wie auch durch das ganze Album. Vernissage My Heart ist lyrisch gesehen also deutlich politischer und vor allem direkter als mea culpa. Das spiegelt sich auch in der Musik wider, wie vom Opener Kids Im Park an bemerkbar. Hier brettern schwere, rockige Gitarren-Riffs über den Hörer herein, während Maurice Ernst laut und verzerrt aus sich hinausgeht: Wir wollen fliegen im Super-Speed-Space-Ship / Super-Speed-Space-Ship! Mit dem Follow-up Frisbeee gehen Bilderbuch dann gleich wieder einen Schritt zurück und verstecken sich hinter kindlichem Gesang und einem atmosphärischen Gitarren-Lick. Ihr Busen hüpft, wenn sie die Frisbeee catched und mir wird wieder klar was mich glücklich macht / Ja, mir wird wieder klar meine Erde ist flach. Auf diesem Song klingt wieder ein bisschen Anti-Sexismus an, sowie der Wunsch nach romantischerem Verständnis der Benutzung von sexuellerer Bildsprache. LED Go wartet dann mit einer der interessantesten Textzeilen des Albums auf: Oh, ich bin so frei / Doch frei heißt auch alleine sein / Liebe ist der Place to be. In seinem Interview mit Diffus schlüsselt Maurice Ernst das auf. Er betone damit die Bedeutung der Liebe als "Heilmittel" gegen das Streben nach Freiheit, dessen Kehrseite Einsamkeit ist, denn die Möglichkeit völlig unabhängig zu sein, hat man nur, wenn man alleine ist. Trotzdem bliebe der Fakt, dass Liebe das Wichtigste für den Menschen ist und ihn vor uneingeschränktem Streben nach Freiheit schützt. Auf Ich Hab Gefühle feiern Bilderbuch dann eine Party darauf, dass sie Gefühle haben, mit Kanye West-, Funk- und Hip-Hop-Einflüssen, einschlägigen Drums und viel AutoTune. Der Titeltrack Vernissage My Heart präsentiert eine der berühmten, groovy BiBu-Basslines und kühlt den Zuhörer nach so einer Explosion ab, bevor Europa 22 die Reise mit politischer Message und ausartendem Improvisationspart beendet. Besonders diese letzten drei Songs geben dem Album so richtig Pepp, wobei der Rahmen mit Kids Im Park und Frisbeee schon (mehr als) vernünftig gesetzt war. Das der Mittelteil so ein bisschen vor sich hin tröpfelt ist letztendlich aufgrund der Länge des Gesamtwerks nicht ganz so schlimm.

Der Doppelschlag aus den Geschwisteralben mea culpa und Vernissage My Heart ist ein Projekt, dass Bilderbuch wieder einmal geglückt ist, auch wenn kein Album von Schick Schock-Kaliber herauskam. Die beiden Werke bilden aber in sich geschlossen eine eigene Einheit in der Diskographie der Band und beschäftigen sich tiefgründiger und milder mit politischen Themen. Sie geben mehr einen Kommentar ab, als dass sie in einer narzisstisch-überzogenen Komödie der Gesellschaft den Spiegel vorhalten (Magic Life). Musikalisch hat das viel weniger Bumms als zuvor, was aber bei den wabernden Beats und der Wärme von mea culpa oder den verschiedensten, direkt ausgeführten Richtungen von Vernissage My Heart keineswegs schlecht ist. Ganz im Gegenteil: das hat einen großartigen Mehrwert für Bilderbuch und fügt ihrer Ästhetik und Musikalität die eine oder andere Facette hinzu. Maurice Ernst selbst war es der sagte, dass es für ihn darum geht, dem Gefühl freien Lauf zu lassen - genau das haben die Österreicher-Buben mit diesen erwachseneren Werken getan. Hut ab, wer sich all das mit solchem Selbstbewusstsein traut.

bilderbucheuropa.love

mea culpa auf Spotify: https://open.spotify.com/album/36cPhU78kRLRZrVCsDa2lz?si=0iHMb096Qtyvi9BzZNjNUg

Vernissage My Heart auf Spotify: https://open.spotify.com/album/0M0laOjharl0ZVoQ9aYAoZ?si=WP_eQFOnT9WYBYuu2UTmAA

Die Bilderbuch: Hit-Songs-Playlist von Sloth-Sound auf Spotify (klicke hier) und Apple Music (klicke hier).