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Essenzielle Alben: The Mars Volta – Deloused In the Comatorium

The Mars Volta sind eine der wenigen Bands, die nicht nur die Stilmerkmale, sondern auch den Geist der progressiven Rockmusik in das 21. Jahrhundert getragen haben. In diesem Beitrag geht es um ihr essenzielles Debüt-Album "Deloused in the Comatorium" und die Wurzeln und Entstehungsgeschichte der Band.

Im Rahmen meines englischen Beitrags Top 10 Favorite Progressive Rock Albums of All Time habe ich bereits über The Mars Volta und ihr zweites Studioalbum Frances the Mute gesprochen, mein persönliches Lieblingsalbum der mexikanisch-puertoricanischen Experimental-Rockband. Aber auch zu Deloused In the Comatorium (manchmal geschrieben als "De-Loused In the Comatorium") habe ich noch ein paar Wörtchen zu sagen, diesmal im Rahmen meiner "Essenzielle Alben"-Reihe. Dabei möchte ich nicht nur auf das fertige Album, produziert von Rick Rubin und mit Flea am Bass, eingehen, sondern auch auf die ursprüngliche Version, die vor kurzem als Landscape Tantrums (der ursprüngliche Titel des Albums) veröffentlicht wurde.

Die Geschichte von The Mars Volta beginnt mit einer anderen, mindestens genauso berühmten Band: At the Drive-In. Die Post-Hardcore-Band hatte gerade mit ihrem dritten Studioalbum Relationship of Command den kommerziellen Durchbruch gefeiert und war in diesem Zuge als Vorband für die Red Hot Chili Peppers auf Tour gegangen, mit denen man sich prächtig verstand. At the Drive-In selbst war jedoch bereits am zerbröckeln, unter anderem an kreativen und politischen Differenzen. Die wichtigsten Mitgliedern waren Jim Ward, Cedric Bixler-Zavala und Omar Rodriguez-Lopez. Letztere sind die späteren Kernmitglieder von The Mars Volta und so ziemlich die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. So gaben sie sich das Versprechen jederzeit zusammen aus At the Drive-In auszusteigen, sobald es einem von beiden zuviel würde. Genau das passierte. Nach einer beinahe halbjährigen Pause, die sich die Band nach intensivem Touring nahm, entschieden sich Cedric Bixler und Omar Rodriguez die Band zu verlassen. Sie fühlten sich kreativ eingeengt, unwillkommen in der Band und sogar diskriminiert von der von weißen dominierten Indie-Rock-Szene der Zeit. Das zeigt sich auch ganz klar in der Musik ihres neuen Projektes The Mars Volta, für das die beiden von Anfang an planten, allen kreativen Impulsen jedes Bandmitglieds freien Lauf zu lassen und ihren musikalisch-kulturellen Wurzel zu huldigen. Letzteres bedeutet noch viel mehr als nur Latin-Folk-Einflüsse und Salsa. Es ist auch der Ursprung von The Mars Volta's wilden, oft abrupten Dynamik- und Tempowechseln und ausufernden, psychedelischen Improvisationen. 

Der Entstehungsprozess des Debüt-Albums der Band war langwierig. Die Besetzung wechselte stetig, denn Omar Rodriguez war auf der Suche nach den perfekten Musikern für sein Herzensprojekt. Die große Verantwortung auf seinen Schultern, die er nun als Frontmann einer Band tragen musste, und der Druck ein erfolgreiches Erstlingswerk veröffentlichen zu müssen, um nicht sich und seinen besten Freund Cedric Bixler in den Ruin getrieben zu haben, erdrückte ihn fast. Er hatte mit Panik- und Angstattacken zu kämpfen – und auch mit Drogen. Es war ausgerechnet Jim Ward, dessen Band At the Drive-In die beiden zerstört hatte, der Omar Rodriguez indirekt zur Fertigstellung Deloused In the Comatorium trieb. Ward führte ihn und Cedric Bixler vor all ihren gemeinsamen Freunden vor und sagte, er würde sich darauf freuen, sie scheitern zu sehen. Aus den folgenden, erste Studioaufnahmen ging Landscape Tantrums hervor. Zu diesem Zeitpunkt fehlte The Mars Volta der richtige Bassist und, vor allem, der richtige Produzent. Erst Rick Rubin, mit dem die Red Hot Chili Peppers zuvor für ihr Album Californication zusammengearbeitet hatten, brachte das wahre Potenzial der Band zum Vorschein, während Flea als Bassist einsprang. Das Ergebnis ist DER Meilenstein des Progressive-Rock im 21. Jahrhundert: Deloused In the Comatorium, ein Konzeptalbum über die fiktive Figur Cerpin Taxt, die auf einem gemeinsamen Freund von Omar Rodriguez und Cedric Bixler basiert. Julio Venenegas war ein Musiker aus El Paso. Aufgrund einer Morphin Überdosis fiel er in ein Koma, aus dem er gelähmt und entstellt erwachte. 1996 nahm er sich darum schließlich das Leben. Seine Geschichte wird lose in Deloused In the Comatorium erzählt.

Wenn man sich die Original-Demo der Sessions ohne Rick Rubin Landscape Tantrums anhört, fällt vor allem auf, dass die Grundstruktur für jeden der hier bereits enthaltenen Songs schon vorhanden ist. Das Songwriting stammt also vollends aus der Feder von Omar Rodriguez-Lopez. Das ganze klingt auch schon recht gut, ist aber insgesamt deutlich schräger und dafür weniger dynamisch und heavy als auf dem fertigen Album. Cedric Bixler-Zavala's Vocals sind zudem unpräziser. Hier fehlen einige Textschnipsel, dort verfehlt er mal den ein- oder anderen Ton. Auch der Bass fällt deutlich weniger auf als auf Deloused. Hier vermisst man Flea's Virtuosität und Intensität. Trotzdem ist Landscape Tantrums mehr als nur eine Demosammlung. Die Musik hat schon diese Dringlichkeit, das Mars Volta-typische, verstörende Element und zeigt eine Band mit enormen Ambitionen. In Roulette Dares (The Haunt of), auf Landscape Tantrums noch der Album-Opener, hört man auf dem linken Kanal richtig deutlich das Keyboard von Ikey Owens – ein schönes Detail und ein warmer Klang, der dem fertigen Album vielleicht generell ganz gut zu Gesicht gestanden hätte. Das soll natürlich keine Kritik an Deloused selbst sein. Ehrlich gesagt habe ich an diesem vollendeten Debüt so gut wie keine Kritik, zumindest keine, die nicht total subjektiv ist. Trotzdem trage ich sie gerne vor: Zum einen überspringe ich regelmäßig den Titel This Apparatus Must Be Unearthed – 'Tschuldigung dafür. Hier gefällt mir Cedric Bixler's Gesang, besonders im Refrain, nicht so. Das rückwärts abgespielte Drum-Solo am Ende ist im Gegenzug ein Geniestreich. 
Auf der anderen Seite finde ich die Tracks Roulette Dares (The Haunt of) und Eriatarka manchmal zu hektisch. Deloused bietet dem Hörer generell weniger Pausen als der Nachfolger Frances the Mute. Auf besagten Songs wird es mir dann manchmal ein bisschen zu viel des Guten – und das obwohl sie, neben Inertiatic ESP, wohl die zugänglichsten und einprägsamsten Titel sind – und das wär's schon. Für mich ist Deloused In the Comatorium ansonsten ein perfektes Album. Viel gibt es da eben nicht zu bemängeln angesichts der schieren Musikalität, der Experimentalität zwischen Post-Hardcore, Psychedelia, Elektronischer Musik, Latin-Folk und Prog, des fantastischen, unvorhersehbaren Songwritings und der einzigartigen, aufmerksamkeitsheischenden Stimme von Cedric Bixler. Man entdeckt jedesmal etwas neues, wenn man The Mars Volta's Songs hört. Dabei ist es mindestens genauso spannend die einzelnen Instrumente und was sie alles spielen zu betrachten, wie es das große Ganze ist. Das liegt vor allem am fantastischen Layering – das ist das Übereinanderlegen verschiedener Spuren – und am Mixing, wenn beispielsweise zwei komplett dissonante, rhythmisch unabhängige Gitarrenläufe vollständig auf den linken bzw. rechten Kanal geschoben werden. Teilweise fallen einem diese dann auf der Stereo-Anlage nicht einmal isoliert auf. Erst Kopfhörer bringen solcherlei Details zum Vorschein. So kann man am Ende die Bausteine, die das Arrangement bilden, genau auseinandernehmen und sich an ihnen in ihrer Einzelheit erfreuen. Das ist einer der Faktoren, der die Musik der Band faszinierend macht und dafür sorgt, dass man sich ihre Songs kaum überhören kann. Weitere sind die oben aufgelisteten Charakteristika. The Mars Volta haben also alles, was eine legendäre, ja unsterbliche Band ausmacht – fehlt nur noch die Reunion!

9 / 10

  1. Son et Lumière | NR
  2. Inertiatic ESP | 100
  3. Roulette Dares (The Haunt of) | 100
  4. Tira Me Las Arañas | NR
  5. Drunkship of Lanterns | 100
  6. Eriatarka | 100
  7. Cicatriz ESP | 100
  8. This Apparatus Must Be Unearthed | 75
  9. Televators | 100
  10. Take the Veil Cerpin Taxt | 100