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Album-Review: Beach House – Once Twice Melody

Nach sieben zumeist hochgelobten Studioalben hat es das amerikanische Dream-Pop-Duo Beach House mit ihrem ambitionierten 18-Song-Epos "Once Twice Melody" endlich geschafft, mich in ihren Bann zu ziehen – und das obwohl sie auch auf ihrem achten Album ihren Sound nur subtil angepasst haben. Mit der Ausnahme des zu hörenden Live-Orchesters, ist "Once Twice Melody" nämlich vor allem eines: die monumentale und cinematische Perfektion des Stils von Beach House. Das passt auch zu der Fertigstellung ihres eigenen Studios, in welchem Alex Scally und Victoria Legrande für die Aufnahmen zu "Once Twice Melody" endlich alles zur Verfügung stand, um einen musikalischen Höhepunkt in ihrem Katalog zu erschaffen.

Ein neues Album- und Veröffentlichungsformat – Einleitung und prätentiöse Diskussion

Was meine Aufmerksamkeit – und sicherlich die vieler anderer Musikhörer – zuerst erweckt hat, war das Format in dem Beach House ihr neues Projekt veröffentlicht und strukturiert haben. Once Twice Melody wurde monatlich von November bis Februar in vier Kapiteln mit jeweils vier bis fünf Songs der Welt zugänglich gemacht. Auf Apple Music umfasst das Album dementsprechend vier Discs. Das wirft in Bezug auf das Gesamtwerk die Frage auf, wie Once Twice Melody denn nun konsumiert werden soll: Als Doppelalbum oder als vier zusammenhängende EPs? Sind das nicht essenzielle Fragen, wenn man ein Album einschätzen will?
Egal ob bewusst oder unbewusst, Beach House fordern mit dieser neuartigen Form unser Verständnis einer LP heraus – und damit auch die Art und Weise, wie die Musikpresse eine LP bewertet. Die Vierteilung eines Albums ist dabei trotzdem nichts Neues und basierte auch im Falle von Beach Houses Once Twice Melody auf der Überlegung, wie die Songs auf einer Doppelvinyl über vier Seiten (A, B, C, D) zuzuweisen sind. 
Natürlich haben einige große Publikationen mit der typischen "Das Album ist (zu) lang"-Keule reagiert. Für mich sind Beach House dieses Argument durch die Einteilung in vier Kapitel aber gekonnt umgangen und haben durch die monatliche Veröffentlichung den Hörern zusätzlich Zeit gegeben, die Songs häppchenweise kennen- und schätzenzulernen, sodass man, wenn dann am Ende das komplette Album draußen ist, auf keinen Titel mehr verzichten möchte und nicht überwältigt wird von der schieren Anzahl an Material. Das könnte auch teilweise die untypische Richtung der Diskrepanz zwischen User- und Critic Score auf albumoftheyear.org erklären. Die Nutzer sind diejenigen, die die Musik zuvor aufgesaugt haben und so kaum auf die Länge von Once Twice Melody eingehen. Die Kritiker von den Zeitungen wahr(t)en bewusst die Distanz und hören die ersten drei Kapitel vielleicht zum zweiten Mal, das neue vierte Kapitel zum ersten Mal. Das wirft eine weitere grundlegende Frage in der Musikkritik auf: Sollte man die Musik mit Distanz ("als Profi") nach zwei oder drei Hördurchgängen beurteilen oder mit ihr vertraut werden wie der Konsument? Welches der beiden Urteile zählt mehr? Wann, an welchem Punkt sollte man überhaupt seine Meinung niederschreiben? Und nein, diese Diskussion erübrigt sich nicht in der Subjektivität von Musik, denn die Aufgabe der Musikkritik ist lediglich, dem Hörer Orientierung zu bieten in einer Musikwelt, die besonders heutzutage von Hörangeboten überschwemmt wird. Sie hat also eine Art Gatekeeper-Funktion, die wiederum möglichst "gerecht" ausgestaltet werden sollte, was uns zurück zu den eben gestellten Fragen führt. Für mich ist es gerechter gegenüber der Musik, einem Album wirklich Zeit zu geben, um dann die Handlungsempfehlung auszusprechen: Muss und sollte der Hörer seine Zeit in das Werk investieren? Erschließt es sich schnell und bleibt trotzdem später interessant? Oder besteht es den Test der Zeit nicht? Etc.
Demgegenüber steht das Profitstreben der Publikationen und ihr Überlebenswille. Man kann sich nunmal nicht unendlich viel Zeit lassen! Wie so oft, muss ein Mittelweg her. Beach House haben es der Musikwelt mit ihrem vier-monatigen Veröffentlichungszyklus jedenfalls unverbindlich erleichtert, das oben genannte Ideal zu erfüllen, zumindest im Falle der ersten drei Chapter. Ich habe das Angebot angenommen und kann sagen: die ersten drei Kapitel von Once Twice Melody brauchen teilweise ein bisschen Zeit, doch der Klick-Moment kommt und das eher früher als später. Den Test der Zeit haben die ersten 13 Songs bisher ebenfalls bestanden, weshalb Once Twice Melody Kandidat für mein Album des Jahres sein dürfte – nur geschmälert durch die individuelle, relative Mittelmäßigkeit des vierten und finalen Kapitels, das deutlich milder und musikalisch zurückgezogener ausfällt. Bei allen fünf Songs handelt es sich um Balladen, die kaum an die Einprägsamkeit, kompositorische Komplexität oder Epik der vergangenen Titel heranreichen. Als eigenständiges Kapitel funktioniert Chapter 4 für mich darum weit nicht so gut wie seine Vorgänger. Als Ende eines Albums, einer Schaffensperiode passt der sich beruhigende, harmonische und Epilog-artige Stil aber doch und das instrumentelle Akustik-Gitarren-Outro, das aus der dichten Dream-Pop-Klangkulisse von Modern Love Stories hervorgeht, bildet einen Abschluss mit kathartischer Wirkung, den sich Beach House nach drei EPs voller Perfektion redlich verdient haben. Es kommt eben darauf an, aus welcher Perspektive man Once Twice Melody hört.


"Once Twice Melody": Alle Kapitel Ranked & Reviewed

#4: Chapter 4

Chapter 4 ist, wie bereits angesprochen, der mit Abstand schwächste Teil des Albums. Auf den vorangegangenen Kapiteln gab es jedesmal Überraschungen und Experimente von Beach House zu hören, ganz abgesehen von den epischen Ausmaßen und der stilistischen Vielfalt der Songs. Die letzten fünf Tracks von Once Twice Melody bringen hingegen kaum nennenswertes Neues. Sie leiden außerdem unter der Bürde, ein großartiges Album, das bereits 13 Titel und eine Laufzeit von über einer Stunde zählt, beenden zu müssen, ohne den Hörer zu langweilen oder anzustrengen. Letzteres gelingt auf Kosten des ersteren: Chapter 4 ist nicht anstrengend, aber eben auch nicht sonderlich spannend. Kein Song sticht wirklich heraus und alle sind geprägt von der folkigen Seite von Beach House, welche zugegebenermaßen die ereignisloseste des Duos ist. Trotzdem: Chapter 4 bildet einen guten Epilog zu Once Twice Melody und hat einige schöne Momente wie die romantische Orgel auf Hurts to Love, das wiederkehrende bluesige Gitarrenmotiv auf The Bells, das mich an George Harrison's Behind That Locked Door erinnert, oder die Coda von Modern Love Stories.

7.5 / 10

Anspieltipps & Highlights: "Finale"; "Hurts to Love"; "Modern Love Stories"

#3: Chapter 3

Und schon sind wir bei dem richtig guten Material von Beach Houses Once Twice Melody angelangt. Zwar befinden sich auf Chapter 3 schon zwei Songs, die auf den Stil von Chapter 4 hinweisen (Another Go Around und Illusion of Forever), doch diese sind einprägsam, haben tolles Storytelling und bieten Abwechslung von den rockigeren Tracks Only You Know und Masquerade. Der geheime Star dieser EP ist jedoch der kurze, von Akustik-Gitarre dominierte Opener Sunset mit zuckersüßen Vocals und Lyrics von Victoria Legrande, die ihren Höhepunkt in der sich wiederholenden Zeile Lay me where the flowers grow finden. Only You Know überzeugt mit viszeralem Schlagzeug, rockigen Shoegaze-Gitarren und bezauberndem Echo auf dem eröffnenden Gesang. Masquerade ist der experimentellste Song des Kapitels mit einem schizophrenen Mittelteil und treibendem Hip-Hop-Beat.
Wer den einprägsamsten und schnelllebigsten Einstiegspunkt in Once Twice Melody sucht, sollte es zuerst mit Chapter 3 probieren.

9 / 10

Anspieltipp: "Only You Know"
weitere Highlights: "Masquerade"; "Sunset"; "Illusion of Forever"

#2: Chapter 2

Das Gegenteil gilt für Chapter 2. Zu Release habe ich die zweite Song-Kollektion von Once Twice Melody auf AOTY nämlich "nur" mit einer 8 bewertet. Chapter 2 ist das sperrigste Kapitel des Albums. Der exzentrische erste Song Runaway verwirrt zuerst mit einem Vocoder auf Victoria Legrandes Stimme, programmierten, absichtlich besonders synthetisch klingenden Drums sowie repetitivem Songwriting und Over and Over ist mit einer Laufzeit von rund sieben Minuten der längste Song auf Once Twice Melody. Das kürzere, eher von Akustik-Gitarre geführte ESP glänzt hingegen von Anfang an mit einer mystischen Atmosphäre und großartigen Streichern, während ein tief und verzerrt im Mix begrabenes Drum-Loop im Hintergrund spielt. Das poppige New Romance gehört mittlerweile zu meinen Lieblingsstücken des gesamten Projekts. Chapter 2 ist also eher ein Grower, also eine EP die mit der Zeit und mehr Hördurchgängen wächst. Beach House gelingt es mit dem Kapitel außerdem, den Hörer nach den ersten vier Songs weiterhin zu fesseln und mit neuen Ideen und Sounds herauszufordern. 

9 / 10

Anspieltipp: "New Romance"
weitere Highlights: "Runaway"; "Over and Over"

#1Chapter 1 

Nach all dem bleibt Chapter 1 jedoch weiterhin ungeschlagen, stellt aber dennoch nicht die beiden folgenden Kapitel in den Schatten. Der Opener und Titeltrack zu Once Twice Melody ist mein Lieblingssong des gesamten Albums und der nächste Titel Superstar zählt zweifellos zu den besten Stücken, mit denen Beach House die Hörerschaft bisher verwöhnt haben. Das folgende Pink Funeral zeigt mit Hip-Hop-Hi-Hats und einer ungewöhnlichen Palette an Klängen und Melodien die Wandelbarkeit und neue(-re) experimentelle Ader von Beach House – musikalisch gesehen ein weiterer Höhepunkt von Once Twice Melody. Chapter 1 ist ein Meisterstück und möglicherweise die beste Ansammlung an Songs, die Beach House bis jetzt kreiert haben. 

9 / 10

Anspieltipp: "Once Twice Melody"
weitere Highlights: "Superstar"; "Pink Funeral"


Ein Fazit zum Gesamtprojekt

Schlussendlich muss ich Once Twice Melody trotz meiner teilweise kritischeren Worte zu Chapter 4 ein schwärmerisches Gesamturteil geben. Betrachtet man das achte Beach House-Album nämlich in seiner Gesamtheit als Doppelalbum, so bleibt es eines der besten solchen, die ich je gehört habe. Bei dieser Fülle an Material, die ein Doppelalbum nun einmal automatisch haben muss, ist es einfach normal, dass nicht jeder Song das Beste vom Besten sein kann. Das gilt selbst für die Beatles mit ihrem selbstbetitelten, weißen Album oder Led Zeppelin's Physical Graffiti oder Miles Davis' Bitches Brew oder Sign o' the Times von Prince – und alle diese Werke sind legendär. Insofern ist Once Twice Melody Pflichtprogramm für jeden aktiven- und sowieso für den fanatischen Musikhörer. Beach House vereinen unfassbar viele Genre-Einflüsse – Shoegaze, Electronica, Kraut-Rock, Hip-Hop, Neo-Psychedelia, Folk, Chamber-Pop, Post-Rock, 80s – zu einem magischen, emotionalen, selbstreflektiven und vielschichtigen sowie erstmals in ihrer Diskographie selbst produzierten (was grandios gelungen ist) Dream-Pop-Album, das einen neuen Höhepunkt ihres Schaffens bildet. Die Geschichten von Beziehungen, die Victoria Legrande erzählt, wobei sie viele Bilder der Natur, von Sternen und Träumen verwendet, sind sehr bewegend und werden perfekt durch die Musik inszeniert. Es entsteht eine anderthalbstündige, fast schon spirituelle Erfahrung, die einen in andere Sphären zu heben scheint und die an keinem Punkt von irgendeinem Song gestört wird.

Gesamtbewertung: 9 / 10

Essenzielle Songs: "Once Twice Melody"; "Superstar"; "Only You Know"; "Masquerade"; "Pink Funeral"; "Runaway"; "New Romance"; "Over and Over"


"Once Twice Melody": Alle Songs Ranked
  1. Once Twice Melody
    Der Titeltrack war das erste, was ich von Once Twice Melody gehört habe. Beach House vereinen meisterlich einen rockigen Drum-Groove mit akustischen Strings, bildhaften Vocals und warmer Akustik-Gitarre. Es entsteht ein malerisches Meisterwerk von einem Song. 
  2. New Romance
    New Romance beinhaltet Victoria Legrandes stärkste Vocals über Liebesbeziehungen auf Once Twice Melody und kontrastiert sie im Chorus mit einem einfachen Zweizweiler: Last night, I'm messing up / Now I feel like dressing up, der von einer ohrgasmischen Explosion an Sound in Szene gesetzt wird. Mit dem Bridge-Teil dem folgenden Drum-Fill hin zum Chorus und dem perfekt funktionierenden plötzlichen Schluss heben Beach House New Romance nochmal auf ein neues Level.
  3. Superstar
    Die erste Single zu Once Twice Melody bleibt ein absolutes Highlight des Albums. 
  4. Over and Over
    Die elektronische Odyssey Over and Over finden viele Hörer zu lang. Ich persönlich finde, dass die ausgeprägte Schlusssektion einer der coolsten Build-up-Momente auf Once Twice Melody ist und perfekt mit dem verträumten Sound von Beach House funktioniert: Man kann sich einfach in den Klangwelten verlieren.
  5. Only You Know
    Bei Only You Know scheiden sich genauso die Geister. Das Echo auf den Vocals im Chorus fühlen viele nicht so. Ich finde es ist großartig. Only You Know kommt außerdem am nähesten an den rockigen Shoegaze der 90er heran mit einer Gitarrenwucht wie sie Beach House eigentlich noch nie zustande gebracht haben. 
  6. Pink Funeral
    Pink Funeral auf der anderen Seite ist der beliebteste Song bei den Kritikern. Beach House erzeugen einen ekstatisch-romantischen Grusel mit einer experimentellen Sound-Pallette. 
  7. Masquerade
    Kein anderer Song auf Once Twice Melody rockt so sehr wie Masquerade. Der programmierte Hip-Hop-Beat, die vibrierenden Synthesizer und die düsteren Glocken werden nur noch vom klimaktischen Mittelteil getoppt, indem Victoria Legrande in schizophrenes Flüstern ausbricht.
  8. Runaway
    Runaway mag der sperrigste Track von Once Twice Melody sein. Beach House gehen mit den synthetischen Drums, Vocoder und repetitivem Songwriting richtig ins Risiko. Nach einigen Hördurchgängen beginnt es sich auszuzahlen.
  9. Sunset
    Sunset ist mit seiner warmen Akustik-Gitarre eine erfrischende Ballade nach der Odyssey Over and Over. Der Song ist wie ein Traum vom Paradies. 
  10. Hurts to Love
    Romantische Orgel und einige der plakativsten Lyrics des Albums, was will man mehr?
  11. Through Me
    Through Me ist der unauffälligste Song auf Chapter 1 von Once Twice Melody. Victoria Legrandes Vocal-Performance ist trotzdem bemerkenswert und Through Me wird noch einmal durch den Twist mit Hip-Hop-Hi-Hats am Ende aufgewertet.
  12. Finale
    Für Finale wurden Victoria Legrandes Vocals mit einem iPhone aufgenommen. Der Effekt wirkt mit den Retro-Synth-Arpeggios Wunder. 
  13. ESP
    ESP war der erste Song mit einer Laufzeit unter vier Minuten auf Once Twice Melody und seit dem Titeltrack das erste Mal, dass Akustik-Gitarre einem Song Struktur gibt. Drumherum bauen Beach House eine düstere Klangkulisse voller Details. Besonders hervorzuheben sind der stetige Drum-Beat und die akustischen Streicher.
  14. The Bells
    The Bells ist ein richtiger Grower.
  15. Illusion of Forever
    In Illusion of Forever steckt ein guter Song, der in meinen Augen durch die kontroversen Tonnen an Reverb erst wirklich interessant gemacht wird. Es reicht trotzdem nicht für einen höheren Spot.
  16. Modern Love Stories
    Als Finale für Once Twice Melody und im Kontext des eher ruhigen vierten Kapitels funktioniert Modern Love Stories richtig gut. Betrachtet als alleinstehendes Stück fehlen jedoch die emotionalen und einprägsamen Entwicklungen und Motive. 
  17. Another Go Around
    Für Another Go Around halten sich Beach House erstmalig auf Once Twice Melody mit der Instrumentation zurück, um den Lyrics Platz zu geben, die einprägsam formuliert vom Zyklus der Liebe erzählen. 
  18. Many Nights
    Das für Once Twice Melody minimalistisch gehaltene Many Nights mutet an wie ein Schlaflied, im guten Sinne.