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2022: Meine 22 Lieblingssongs des Jahres bisher

Die letzten Jahre habe ich sowas immer nur zum Ende des Jahres hin gemacht, aber in 2022 habe ich schon so viel Musik gehört, dass es sich angeboten hat eine Halbjahresliste anzufertigen. Ich präsentiere hiermit also meine Top 22 Lieblingssongs der ersten Hälfte des Jahres 2022, vom 1. Januar bis zum 31. Juni. Dabei sei ganz genau auf das Veröffentlichungsdatum von Singles geachtet, die auf 2022er Alben erschienen sind. Jack Whites "Taking Me Back", "Concorde" von Black Country, New Road oder "New Romance" von Beach House sind deshalb nicht auf dieser Liste zu finden. Sie wurden schon 2021 abgekoppelt vom vollständigen Album, das 2022 veröffentlicht wurde, herausgebracht.

Für diese Liste gilt: nur ein Song pro Künstler. Viel Spaß beim Entdecken!

22. Metronomy – "Things will be fine"

Things will be fine ist Metronomys Lockdown-Song: eine simple Akustik-Nummer mit dem typischen, lockeren Charme der Indietronica-Band, die davon handelt, dass doch alles gut werden wird. Das glaubt man Sänger Joseph Mount auf's Wort. Wie der Rest des Album Small World ist Things will be fine musikalisch aber nicht sonderlich interessant oder packend. Trotzdem ist er mir wegen der Message im Kopf geblieben.

21. Red Hot Chili Peppers – "Black Summer"

Die Red Hot Chili Peppers feierten gleich zwei Comebacks: Einmal gab's nach 6 Jahren wieder ein neues Album und obendrein ist das erste Mal seit Stadium Arcadium (2006) der legendäre Gitarrist John Frusciante wieder an Bord. Gleich die erste Single Black Summer war ein Treffer ins Schwarze – trotz aller verständlichen Kritik an der Redundanz der Peppers und an Anthony Kiedis' Lyrics (Beispiel: And china's on the dark side of the moon). Bis auf Aquatic Mouth Dance kommt kein Song vom dann doch eher (vorhersehbar) durchwachsenen Album Unlimited Love an die schier glorreiche Catchiness von Black Summer heran.
Die Rechnung ist einfach: Wer die Chili Peppers mag, der wird auch Black Summer mögen.

20. Jack White – "Into the Twilight"

Jack Whites neues Album enthält eine Reihe erwähnenswerter Songs. Der Erwähnenswerteste (Taking Me Back) ist leider schon 2021 erschienen. Deshalb musste ich nun aus The White Raven, Eosophobia und Into the Twilight wählen. Alle drei sind solide. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hat es mich aber am ehesten zu letzterem hingezogen – vielleicht der experimentellen Füllelemente oder der einzigartigen Production oder der Samples wegen. Ich weiß es nicht genau. Der Song ist jedenfalls ziemlich cool.

19. Harry Styles – "Music for a Sushi Restaurant"

Harry Styles überrascht mit dem Opener seines neuen Albums Harry's House (aber leider nicht darüber hinaus). Music for a Sushi Restaurant ist vor allem ein Vergnügen zu hören. Eine einzigartige Bassline prägt die Strophen und im Chorus explodiert der Song in Prince-esque horn-Synthesizer und ba-ba-Backing-Vocals. Die verquere Coolness wird von der Eröffnungsline perfekt zusammengefasst: Green eyes / fried rice I could cook an egg on youMusic for a Sushi Restaurant bietet genau die Ekstase und den Biss, den das restliche Album schmerzlich vermissen lässt.

18. Cloakroom – "Doubts"

Doubts ist der poppigste Song, den die Post-Hardcore-Band Cloakroom bisher veröffentlicht hat und sticht deswegen stark aus den sonst dichten Shoegaze-Instrumentierungen ihres neuen Albums Dissolution Wave heraus. Es ist das emotionale Highlight des winterlichen Musik-Space-Westerns und ein Punkt der Reflektion für den Protagonisten und den Hörer. Musikalisch und textlich scheint sich ein Schleier zu lichten, der die ganze Zeit über dem Album und seiner Geschichte lag. Für mich war dieser Song ein großer Trost im grauen Wintersemester in einer neuen Stadt.

Doubts / I've had my doubts / I was carrying a fire now that's going out / Doubts 
Words / I have no words for how cold it can get in this big old universe / Words

17. Wet Leg – "Angelica"

Wet Leg haben dieses Jahr mit ihrem selbstbetitelten Debüt-Album große Wellen geschlagen. Ich hatte es mir angehört und fand einige Songs, darunter Wet Dream, ganz gut. Insgesamt halte ich Wet Leg jedoch eher für unausgeglichen. Wäre da nicht meine Freundin gewesen, hätte ich mir wahrscheinlich keinen Song vom Album noch einmal angehört. Da war aber meine Freundin und sie hatte Wet Leg und ihren Track Wet Dream durch ein Cover von Harry Styles entdeckt (dessen Live-Version nimmt dem Song nebenbeigesagt jegliche Energie). Wet Dream war mir schon bei meinen zwei Hördurchgängen für die Review als eines der zwei Highlights des Albums aufgefallen und – was soll ich sagen – der Song ist einfach fantastisch. Er ist der Kulmination von Wet Legs Stil und Idee: Freche, sexuell extrovertierte, anti-sexistische und spielerische Lyrics treffen auf energetische Performances und ausgelebte Femininität. Der Indie-Rock-Sound trägt zwar kein ganzes Album, aber macht zumindest einen Track zum absoluten Hit. 

Anmerkung: Da habe ich's in der Einleitung noch mahnend gesagt und dann ist es mir wirklich passiert. Wet Dream wurde schon 2021 als Single released. Betrachtet also Angelica als Platz 17 der Liste. Der Song ist ebenfalls sehr gut; etwas länger, heavier und anspruchsvoller. 

16. The Mars Volta – "Blacklight Shine"

Im Moment gibt es aus einem irgendeinem Grund außergewöhnlich viele Comebacks – besonders von legendären Prog-Bands.
The Mars Volta gelten so ziemlich als Höhepunkt des modernen progressiven Prog und all ihre Alben wurden jüngst auf audiophilem Vinyl neuaufgelegt. Es ist also der perfekte Zeitpunkt für die Band, neue Musik zu veröffentlichen.
Der erste Vorgeschmack auf ein kommendes Album ist die Single Blacklight Shine. Wie kaum eine Band schaffen es The Mars Volta auf jedem Album eine Veränderung und neue Experimente einzuführen und gleichzeitig eindeutig nach sich selbst zu klingen. Auch Blacklight Shine zeigt das. Die chaotischen Post-Hardcore-Tage der Band sind bekanntlich vorbei und so ist der Song wieder einmal eher laid back mit schönem Groove, lateinamerikanischem Feel, interessanten Percussions, einer soliden Vocal-Performance von Sänger Cedric Bixler-Zavala und den typischen gegeneinander spielenden Gitarren-Licks und -Arpeggios von Omar Rodriguez-Lopez. Vor allem ist Blacklight Shine aber eins: ein guter, einprägsamer, fast poppiger (in seiner Struktur) Song, der nicht zu viel verrät und Lust auf mehr macht. Dieses Mehr gibt's dann wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des Jahres.

15. black midi – "Welcome to Hell"

black midi verfolgen mit Welcome to Hell weiter die Route, die sie 2021 mit dem grandiosen Cavalcade eingeschlagen haben, sind jedoch weniger jazzig und dafür geradliniger und härter – so wie es sich viele ihrer Fans vom Tag 1 gewünscht haben.
Welcome to Hell ist von einer Songwriting-Perspektive vielleicht das Beste, was das britische Trio bis jetzt auf die Beine gestellt hat. Es geht um einen Private (niedrigster militärischer Dienstgrad), der von seinem tyrannischen, unmenschlichen Vorgesetzten an den Rand des Wahnsinns getrieben und schließlich aus der Armee geschmissen wird. To die for your country does not win a war / To kill for your country is what wins a war, heißt es da unter anderem.
Der Monolog des Vorgesetzten, aus dessen Sicht der Song geschrieben ist, ist außerdem gespickt mit expressionistischer Sprache, die perfekt mit der Musik zusammenpasst. black midi stellen ein exzentrisches, Riff-getriebenes, gesteuertes Chaos auf die Beine, dass von einem gigantischem Wall-of-Sound-Breakdown auf die Spitze getrieben und durch einen Metal-Twist am Ende perfektioniert wird. 

14. The Smile – "Skrting On the Surface"

The Smile – das sind Radiohead-Masterminds Thom Yorke und Johnny Greenwood sowie der Jazz-Drummer Tom Skinner. Die haben dieses Jahr ihr erstes Album herausgebracht, dass von vielen als Ersatz für ein neues Radiohead-Album genommen wurde. Für mich hat A Light for Attracting Attention dafür zwar die Melancholie, aber nicht ganz das nötige Niveau gehabt. Ein paar der Singles sind dennoch richtig gut geworden, unter ihnen der Closing-Track Skrting On the Surface mit einem ungewöhnlichen Gitarren-Lick im Vordergrund und vor allem bezaubernden Bläsern zum Schluss. 

13. Just Mustard – "23"

Eine meiner Neuentdeckungen des Jahres sind Just Mustard, eine irische Post-Punk-Band vom berühmt-berüchtigten Label PARTISAN
Ich war für den Podcast vom Uni-Radiosender Mephisto angemeldet und musste mir relativ kurzfristig noch einen neuen Song dafür heraussuchen. Dabei bin ich über die vielversprechenden Reviews auf AOTY für Just Mustards neues Album Heart Under in Verbindung mit dem schönen Cover des Albums gestolpert. Ich habe also in der Bahn zum Sender 23 angeschmissen und war sofort hin und weg. 23 ist düster und bedrohlich; ein Effekt, der durch die eingängige, aber ständig intensiver werdende Atmosphäre – erzeugt durch den Kontrast zwischen der tiefe Bassline, unheimlichen und experimentellen Gitarreneffekte mit dem süßlichen, dissonanten Gesang von Sängerin Katie Ball – hervorgerufen wird.
Meine Kollegen bei Mephisto waren ebenfalls schnell überzeugt vom einzigartigen Sound der Band, der gleichzeitig Assoziationen weckt. Für mich repräsentieren Just Mustard die Industrial und in erster Linie Trip-Hop-Seite der neuen Welle an Post-Punk-Künstlern aus Großbritannien. 

12. Porcupine Tree – "Herd Culling"

Porcupine Tree sind dieses Jahr mit einem neuen Album zurückgekehrt. Unter anderem haben mich zunächst die Singles skeptisch gemacht. Unter ihnen befand sich Herd Culling im furchtbaren Single Edit, dem z.B. vorgeworfen wurde, langweilig zu sein. Man mag es kaum glauben, aber die vollständige, siebenminütige Version hat es gerade gerückt. Das lange Intro macht den Einsatz des bösen Gitarren-Riffs umso effektvoller. Hinzu kommt die dynamische (Post-)Production und exzellente Aufnahmequalität. Nach dem zweiten Chorus wartet Steven Wilson dann mit fantastischen Harmonien und einer seiner besten Solo-Gesangsperformances auf. 

11. Jockstrap – "Glasgow"

George Ellery ist die Violinistin von Black Country, New Road, die später in dieser Liste noch auftreten werden. Zusammen mit einem befreundeten Produzenten hat sie das Pop-Projekt Jockstrap, bei dem sie außerdem singt. Glasgow ist die Lead-Single des kommenden Debüts und eine der besten Singles des Jahres.
Aufgrund der detaillierten Production, die den Song über seine 6-Minuten-Laufzeit trägt, muss man Glasgow einfach mit Kopfhörern hören. Natürlich hat der Song noch mehr zu bieten. Ellerys Vocal-Performance ist wundervoll und der Text interessant geschrieben (I touch myself / Everytime I see / What's missing from my life). Er vermittelt eine gewisse Nostalgie, Bittersüße und Fernweh, aber auch Optimismus. Die Instrumentation ist ebenfalls bezaubernd: Harfe und Akustik-Gitarre, Streicher und Synthies und eine Bass-Drum (jaja und ein paar Toms). Am Ende kommt noch E-Gitarre zu und setzt der kathartisch dissonanten Schlussakkordfolge die Krone auf.
Glasgow ist jetzt schon einer meiner Lieblingssongs des Jahres und wird vielleicht sogar die Liste weiter hochrutschen.

10. Tim Bernardes – "BB (Garupa de Moto Amarela)"

Die schwierigste Wahl des Jahres bisher: Welchen Tim Bernardes-Song soll ich für diese Liste nehmen? Mistificar? Nascer, Viver, Morrer? FaltaFases? Realmente Lindo? E Ballada de Tim Bernardes
Es ist BB (Garupa de Moto Amarela) geworden – einfach, weil ich mit diesem Song am meisten verbinde. An der Warnow sitzen mit Aurel, nach einem langen Besuch am Cospudener See bei 32 Grad Celsius auf den Zug warten mit meiner Freundin, morgens durch Leipzig zur Uni fahren. Immer hat mich Tim Bernardes und insbesondere dieser Song begleitet. Einmal anhören und dann mit den oben Genannten für mehr Magie weitermachen!

9. Kevin Morby – "A Coat of Butterflies"

Wahrscheinlich der schönste Song dieses Liste: A Coat of Butterflies ist Kevin Morbys Hommage, Liebeserklärung und Nachruf auf den legendären, amerikanischen Singer-Songwriter Jeff Buckley, der 1997 im Mississippi River ertrunken ist. Sein größter Hit war wohl sein Cover von Leonard Cohens Hallelujah, auf das Morby im Text Bezug nimmt:

And hey man have you heard Buckley singing "Hallelujah"?
He did what Leonard never could to it: gave it wings and away it was.

Während Buckley in seinen unvorhergesehenen Tod schwamm, soll er Whole Lotta Love von Led Zeppelin gesungen haben. Auch das greift Morby in seinen Lyrics auf – genauso wie auf den Titel von Buckleys zweitem Studioalbum Sketches for My Sweetheart the Drunk, das nur posthum zusammengestellt aus Demos veröffentlicht werden konnte:

I heard the mighty Mississippi took you out witch just one punch. 
I heard you had the voice of a sweetheart, but the sweetheart was out getting drunk.

[...]

Wade into the water, close your eyes boy, and sing:
Want a whole lotta love

Untermalt wird Morbys Gesang von einer einfachen, eingängigen, aber detaillierten Instrumentation, die neben E-Gitarre und Schlagzeug auch Saxophon, Piano und Harfe enthält. In diesem Kontext entsteht eine bittersüße, melancholisch-nostalgische Atmosphäre. Der Hörer trauert um Jeff Buckley, ist aber gleichzeitig angehalten, dankbar für seine Musik zu sein. 

8. Daniel Rossen – "Shadow in the Frame"

Nach der frustrierenden Enttäuschung, die die zweite Staffel der Netflix-Serie The Witcher war, habe ich dieses Jahr die Buchreihe gelesen und das ikonische Videospiel The Witcher 3: Wild Hunt gespielt. Währenddessen lief Daniel Rossens Debütalbum You Belong There, das stilistisch einfach perfekt zur politischen, emotionalen, romantischen, erbarmungslosen und magischen Welt von The Witcher passt. 
Daniel Rossen ist einer der Köpfe der Indie-Band Grizzly Bear, die meiner Meinung nach zu den Besten ihres Genres in diesem Jahrhundert gehören. Nach ihrem letzten Album Painted Ruins von 2017 war der andere Sänger der Band ausgetreten. Im Moment wissen wir nicht, ob es je wieder ein neues Grizzly Bear-Album geben wird. Die Aufregung, Erwartungen und Vorfreude für You Belong There waren also groß und als erste Single wurde der Song Shadow in the Frame ausgekoppelt. Der ist seit seinem Release kontinuierlich gewachsen und bis heute mein Liebling des Albums. Rossens Progressive-Folk ist anspruchsvoll und doch recht düster, weswegen es eben seine Zeit braucht, bis man die Musik so richtig versteht. Insbesondere bei den längeren Stücken ist dies der Fall. Shadow in the Frame erschließt sich im Vergleich recht schnell und bleibt trotzdem immer interessant. Das liegt an der unvorhersehbaren und dennoch natürlich fließenden Songstruktur, dem Hin-und-Her der Dynamiken, Rossens einzigartigem Stimmklang, subtiler Dramatik und der Detailverliebtheit des Arrangements.
Rossen hat alle Instrumente selbst eingespielt und einige sogar extra für You Belong There gelernt. Einzig das Schlagzeug bleibt seinem Grizzly Bear-Kollegen Christopher Bear vorbehalten, der meiner Meinung nach zu den kreativsten Schlagzeugern im Indie-Rock gehört. Der Höhepunkt all dieser idealen Faktoren ist Shadow in the Frame.
 

7. Fontaines D.C. – "Jackie Down the Line"

Nach einem weniger überzeugenden ersten Hördurchgang zu Hause, habe ich die Vinyl von Fontaines D.C.s Skinty Fia spontan in einem Plattenladen, indem das Album gerade gespielt wurde, gekauft, weil mich die Musik dann doch ziemlich gefesselt hat. Ausgerechnet Jackie Down the Line war erst einmal weiterhin ein Flop für mich. Irgendwas an Text und Vocal-Performance empfand ich hier als zu skurril. Irgendwann hat es aber geklickt und ich weiß gar nicht, wie ich Jackie Down the Line anfangs nicht mögen konnte.

Beim Auswählen der Songs für diese Liste saß ich also mit meiner Freundin auf der Couch im Wohnzimmer und spielte verschiedene Tracks von Skinty Fia, um herauszufinden, welchen ich am liebsten mag. Big Shot? Roman Holiday? Skinty Fia? Und schließlich habe ich einfach noch Jackie Down the Line angeschmissen und wusste, dass ich den Song unterschätzt hatte. Nach einem kleinen Austausch mit meiner Freundin – es ging darum, ob es nun Skinty Fia oder Jackie Down the Line werden sollte – hatte ich mich entschieden.
Im Moment komme ich tatsächlich regelmäßiger zu Jackie Down the Line zurück, als zu jedem anderen Song von Skinty Fia. Er hat unfassbares Ohrwurmpotential und hält einen mit seinem treibenden Akustik-Gitarren und der Bassline bei der Stange. Die E-Gitarren im Chorus machen Jackie Down the Line dann perfekt.

6. King Gizzard & The Lizard Wizard – "Magenta Mountain"

Omnium Gatherum wird gerne als ein Album von Leftovers bezeichnet oder gar verschrien. Manchmal mag das stimmen. Es stimmt auch mit Magenta Mountain – im positivsten Sinne. Schon auf Butterfly 3000, dem Vorgänger aus 2021, waren King Gizzard auf Synth-Pop umgestiegen, schafften es aber nicht vollständig aus dem Schmetterlingskokon auszubrechen. Ausgerechnet ein Leftover denkt nun den Sound zu Ende, vollzieht die Transformation. Auf Magenta Mountain hört man keine Akustik- oder E-Gitarren mehr. Stattdessen hat der Song einen großartigen Dance-Beat-Breakdown.
Auch die Synth-Hook, die sich durch den gesamten Song zieht, wirkt weniger plakativ, als das noch bei vielen Butterfly 3000-Tracks der Fall war – nicht, dass ich diese Plakativität nicht ebenfalls geliebt hätte. Stattdessen sind die Lyrics von Magenta Mountain plakativ. Es geht um einen Traum – den eines der Bandmitglieder hatte – von einem Ort auf der Erde, der noch unberührt und friedlich ist; eine Art Paradies, von dem nur wenige Auserwählte wissen.
Im Outro des Songs wird dieser Traum letztendlich musikalisch dekonstruiert. Der bereits erwähnte Dance-Beat ist eher düster und die vereinzelten Rufe nach dem Magenta Mountain sind viel weniger melodisch. Das passt perfekt zum Album, auf dem King Gizzard insgesamt sehr pessimistisch auf den Klimawandel blicken. 
Am Ende überwiegt für mich aber der psychedelische Hippie-Wohlfühltraum in dem Song. Magenta Mountain habe ich vor allem als Begleiter an sonnigen Tagen gehört.

5. Toro y Moi – "The Loop"

Toro y Mois MAHAL ist mein Sommeralbum des Jahres. Meine Freundin hat mich für eine Woche in Leipzig besucht und ich hatte gerade die Vinyl erhalten. Beim Schlendern durch die Karl-Heine-Straße hat sie ein Bild von mir gemacht, dass in eine Instagram-Story mündete. Als Hintergrundmusik habe ich The Loop empfohlen. Den Rest der Woche hatten wir einen Ohrwurm und haben die Platte gehört. Ihr Lieblingssong ist vermutlich Postman, den ich euch genauso sehr ans Herz legen möchte. 

 

4. Psychedelic Porn Crumpets – "Dread & Butter"

Dread & Butter – noch ein Song, der an ein sehr spezifisches Ereignis gebunden ist.
Vor Jahren habe ich meinem Kumpel Marten die Psychedelic Porn Crumpets empfohlen. Nach seinem Abitur ist er für mehrere Monate an die europäische Mittelmeerküste gereist. Nach seiner Rückkehr haben wir uns zufällig in einem Kaffee getroffen. Ich meine mich zu erinnern, dass er Dread & Butter gesummt hat, als wir uns über neue Musik, darunter das kommende Porn Crumpets-Album, unterhalten haben. Seitdem haben wir den Song unabgesprochen immer zusammen gesungen, wenn wir uns getroffen haben.

3. Beach House – "Only You Know"

Die ersten zwei Kapitel von Beach Houses neuem Doppelalbum Once Twice Melody sind noch 2021 erschienen. Deshalb musste ich aus den fünf Songs der letzten beiden EPs auswählen. Absolut jeder Song von Once Twice Melody ist großartig. Meine Lieblinge sind unter den ersten zehn Songs, die ich nicht verwenden konnte. Only You Know schafft es dennoch locker in die Top 3. Ich liebe das Echo auf Victoria Legrands Stimme, wenn sie don't blink singt. Schon die Strophen sind kräftiger als die meisten verträumten Stücke von Once Twice Melody. Im Refrain explodiert der Song mit Schichten an Synths und rockiger E-Gitarre, die im genialen Schluss als letztes Instrument übrig bleibt. 

 

2. Bilderbuch – "For Rent"

Bilderbuch – die beste deutschsprachige Band unsere Zeit – sind 2022 mit einem neuen Album und neuem Stil zurückgekehrt. Trotz meiner anfänglichen Kritik an Gelb ist das Feld, kann ich einfach nicht umhin, diese Band und ihre Musik zu lieben. Das ist das, was ich in meiner Review als den Bilderbuch-Effekt beschrieben habe.
For Rent ist wohl einer der melancholischsten Bilderbuch-Songs aller Zeiten. Maurice Ernsts Lyrics sind geprägt von Eskapismus, Ruhelosigkeit und Unsicherheit. Es spricht Erfahrung aus ihnen; von gescheiterten Beziehungen:
Oh, ich nehm' mir Zeit, nehm' mir Zeit für mein Baby / Und mein Baby nimmt sich natürlich Zeit für mich / Alles was sie hat, ist Liebe For Rent / Sie war da, aber jetzt ist sie weg;
von der Rückkehr nach Hause:
Ich fahr' zurück in die Stadt, wo ich herkomm / Wo ich herkomm' weiß hier keiner, also fahr' ich zurück / Was ich nicht hab', ist nichts, was mich hält);
von Fortschritt und Regression:
Es zieht mich immer hin und weg / Ich tu die Liebe in ein Paperbag / Und die selbe Sonne scheint wieder in ein neues Gesicht).
Trotzdem scheint das lyrische Ich irgendwie zufrieden mit dem Lebensstil  – vielleicht aus Hoffnung, vielleicht aus erzwungener Akzeptanz, vielleicht weil es wirklich glücklicher so ist. Der größte Lichtblick im Song ist das kurze und einprägsame Gitarrensolo von Michael Krammer. Ansonsten ist instrumentelle Landschaft geprägt von Dream-Pop-Synths, Akustik-Gitarre und begleitenden Licks auf der E-Gitarre. Besonders die plötzliche Tiefe und Offenheit der Instrumentation im Synth-Pop-Chorus ist neues Terrain für Bilderbuch, dessen Exekution anfangs verwirrend wirken mag, dem Song aber am Ende viel gibt – auch wenn die Strophen das klare Highlight von For Rent sind. 
Für mich nimmt der Song eine besondere Bedeutung ein, denn immerhin wohne ich seit nunmehr 8 Monaten in einer anderen Stadt und fahre regelmäßig mit dem Zug dahin zurück, wo ich aufgewachsen bin. For Rent scheint also insbesondere zu mir zu sprechen – auch wenn natürlich nicht der ganze Text auf mich zutrifft.

1. Black Country, New Road – "The Place Where He Inserted the Blade"

Zwei Alben hat die siebenköpfige Studentengruppe Black Country, New Road veröffentlicht, bevor sie aufgehört in dieser Form zu existieren. Zwei Alben haben gereicht, sie zu einer der besten und anerkanntesten Rockbands der 2000er zu machen. Kurz nach Release von Ants From Up There diesen Februar ist Frontmann, Sänger, Texter und Gitarrist Isaac Wood dann wegen mental health problems aus der Band ausgeschieden. Aber nicht bevor er sein Meisterwerk über eine vergangene, toxische Fernbeziehung abgeliefert hat.
Die Kulmination von Ants From Up There und seines Songwritings ist wohl das knapp achtminütige Stück The Place Where He Inserted the Blade. Der Song bringt den Sound von Black Country, New Road auf diesem zweiten Album auf den Punkt, beginnend mit einem wunderschönen Piano-Intro, über das das Hauptmotiv auf E-Gitarre und Querflöte einsetzt. You're scard of a world where you're needed / So you never made nice with the locals, sind die ersten Worte die Isaac Wood mit ruhiger und fast brechender Stimme singt. Von da steigert sich der Song hin zum o(h)rgasmischen Refrain. Die Stimmung ist nicht so tieftraurig wie auf anderen Tracks des Albums. Wood wirkt zwar bedauernd, aber nicht depressiv. Seine Tränen sind auch Freudentränen, Tränen der Dankbarkeit für die Zeit. Gleichzeitig ist er mal wütend, mal verständnisvoll; im Reinen und im Unreinen mit sich selbst.
The Place Where He Inserted the Blade ist gerade deshalb der beste Song des Jahres (bisher). Die Emotionen, die er beschreibt sind ambivalent und dadurch realistisch. Sie sind unbeschreiblich und lassen sich nicht mit Floskeln und einfachen Worten zusammenfassen, weshalb ich grandios daran gescheitert bin. Das ist die Kraft von Musik. Durch Instrumentation, Text und Gesangsperformance lassern sich Emotionen transportieren wie nirgendwo sonst – und Black Country, New Road haben das gemeistert, insbesondere mit The Place Where He Inserted the Blade. Der Song ist durch seine Kammer-Pop-Production extrem nahbar, Woods metaphorischer Text macht das Unbeschreibliche zugänglich und durch das Ensemble an verschiedenen Instrumenten könnte der Song kaum farbenfroher sein. Jede Melodie stimmt und das Songwriting packt alles in eine perfekte Struktur, die in den wunderschönen Gruppengesängen der ganzen Band ihren Höhepunkt findet. Das ist zeitlose Musik!